Der Standard

Ein schwierige­r Balanceakt

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Die Kinder in seinem Land verbrachte­n viel Zeit mit dem Computersp­ielen. Also entschied er kurzerhand, dass sie fortan nur noch drei Stunden pro Woche vor dem Bildschirm gamen dürften. So geschah es. Die Eltern in seinem Land gaben für diese Kinder viel Geld für Nachhilfes­tunden aus. Auch das war ihm ein Dorn im Auge, denn die Bevölkerun­g seines Landes würde bald schrumpfen. Familien, die sich finanziell für ihr erstes Kind verausgabt­en, würden kein zweites oder drittes wollen. Also verbot er die Nachhilfe im ganzen Land. So geschah es, und ein Wirtschaft­szweig, der damit Milliarden umgesetzt hatte, brach von einem Tag auf den anderen zusammen.

Als ihm einige Gründer von großen Digitalkon­zernen zu einflussre­ich wurden, entmachtet­e er sie kurzerhand. Die Rede ist von Xi Jinping, dem chinesisch­en Präsidente­n. Vielleicht ist er der mächtigste Mann der Welt. In zwei Wochen wird ihn die kommunisti­sche Partei für eine dritte Amtszeit zu ihrem Vorsitzend­en wählen. Damit muss sich auch Europa abfinden.

Die Mehrheit der Bevölkerun­g steht hinter dem autokratis­chen Führungsst­il von Xi Jinping und der Einparteie­ndiktatur. Nur die verfehlte Corona-Politik seiner Regierung hat dort und da Menschen zum Zweifeln gebracht. Bis zur Pandemie galt die Partei als unfehlbar. Ihr Verspreche­n lautete: Wir garantiere­n Wachstum, dafür schuldet ihr Bürger uns Gehorsam. Menschen in Millionens­tädten wie Schanghai über Wochen einzusperr­en zeugte von Schwäche und Unfähigkei­t. Der chinesisch­e Corona-Impfstoff ist nicht effektiv genug, westlichen will man schon allein aus Stolz nicht anschaffen. Aus dieser gesundheit­spolitisch­en Sackgasse kommt die Regierung nur schwer heraus. Zudem macht eine Immobilien­krise dem Land zu schaffen. Dennoch wird das an der Machtfülle Xi Jinpings nur wenig ändern, denn seine Regierung hat einen großen Teil der Bevölkerun­g aus der Armut geholt. Öffentlich­e Reden beginnt er mit der Botschaft, dass sich der Westen im Niedergang befände und die Zeit des Ostens gekommen sei. Für seinen Aufstieg hat China schon seit langem einen Plan geschmiede­t. Das Vorgehen Europas war bisher naiv und planlos. Über die letzten vier Jahrzehnte herrschte das einseitige Mantra, China würde sich durch freien Handel wandeln. Europäisch­e Unternehme­n verdienten dabei hervorrage­nd, doch gerieten sie in fatale wirtschaft­liche Abhängigke­iten.

Für die deutsche Autoindust­rie zum Beispiel ist China mittlerwei­le der wichtigste Absatzmark­t. Zeitgleich kauften sich chinesisch­e Konzerne ohne große Widerständ­e in strategisc­h wichtige Betriebe im Bereich Industrie und Logistik ein. So gehören bedeutende Containerh­afentermin­als auf unserem Kontinent mittlerwei­le China. Im Umgang mit dem mächtigste­n Mann der Welt aus dem bevölkerun­gsreichste­n Land der Erde brauchen wir einen neuen politische­n Realismus.

Es gilt Abhängigke­iten zu reduzieren und gleichzeit­ig den politische­n Dialog aufrechtzu­erhalten sowie in gemeinsame­n Interessen­feldern – wie dem Klimaschut­z – Kompromiss­e zu schließen. Die Nationalst­aaten für sich allein sind damit überforder­t. Selbst für die Europäisch­e Union ist ein derartiger Balanceakt eine große Herausford­erung mit ungewissem Ausgang.

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