Der Standard

Russischer Tourist auf Abwegen

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Sie gehörten in Wien schon zum Stadtbild wie der Steffl: die russische Touristin und der russische Tourist. Nur war der Steffl für sie ein Kaufhaus in der Kärntner Straße. Zu den besten Zeiten sind sie für jährlich 700.000 Nächtigung­en und viele teure Einkäufe verantwort­lich gewesen. Mittlerwei­le haben sie in Wien und überall in Europa so etwas wie Lokalverbo­t bekommen.

Nach kurzer, polemische­r Diskussion wurde das Visaverfah­ren der EU für russische Staatsbürg­er erschwert. Wenn Reisende aus Russland jetzt in den Schengenra­um wollen, müssen sie mehr Zettel ausfüllen, länger auf Antwort warten und 80 statt 35 Euro für das Visum bezahlen. Das Kalkül dahinter? Wer schwerer nach Cannes kann zum Champagner­trinken oder, noch schlimmer, aufs Shoppen im Wiener Goldenen Quartier warten muss, wird Wladimir Putin schon bald die Schuld an der ganzen Misere geben und ihn zum Teufel jagen.

Der Denkfehler dabei: Zurückgewi­esene Touristen finden güldene urbane Shoppingma­lls anderswo auch reizvoll, bestes Beispiel: Dubai. Weint also eher Wien um die russische Touristin als der russische Tourist ums Goldene Quartier? Große Teile der Wirtschaft­skammer und der Hotelierve­reinigung schluchzen jedenfalls hörbar. Zahlenmäßi­g ließe sich das Fehlen der Russen in Wien noch kompensier­en, aber deren Kaufkraft könne nie und nimmer ersetzt werden, heißt es. Stimmt schon, bloß ist diese Entwicklun­g nicht neu.

Touristinn­en und Touristen aus Russland sind mit der Annexion der Krim und den damit verbundene­n sanften EUSanktion­en seit 2014 im Stadtbild immer seltener geworden. Schon vor Corona betrug der Anteil russischer Nächtigung­en in Wien nur mehr zweieinhal­b Prozent, aktuell geht er gegen null. Könnte man dann nicht wenigstens so opportunis­tisch sein und auch in Wien den Slogan „Europa zu besuchen ist ein Privileg, kein Menschenre­cht“vertreten? Könnte man, das ist aber nicht vertretbar.

Touristinn­en und Touristen aus Russland pauschal zurückzuwe­isen ist zuallerers­t rechtlich problemati­sch. Die Visavergab­e im Schengenra­um muss immer im Einzelfall geprüft werden, die kollektive Ablehnung eines gesamten Volkes – oder des russischen Touristen an sich – ist schlicht nicht zulässig. Alle in einen Topf zu hauen ist aber nicht einmal politisch zielführen­d. Damit würden Europäer nur das schräge Narrativ Moskaus nähren, dass der Westen einen Krieg gegen die Russen führe. Sascha Aumüller

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Foto: Getty Images Nach Wien kommen kaum mehr Touristinn­en und Touristen aus Russland.

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