Der Standard

Xi Jinping überhebt sich

Chinas Präsident hat eine neue Epoche ausgerufen. Ein Erstarken der Ideologie führte früher zu ökonomisch­en und sozialen Problemen. Xis Ausweg könnten dann nicht Reformen, sondern eine Zuspitzung der Taiwan-Frage sein.

- Susanne Weigelin-Schwiedrzi­k SUSANNE WEIGELIN-SCHWIEDRZI­K ist Sinologin, Politikwis­senschafte­rin und Mitglied der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften (ÖAW).

Der 20. Parteitag hat außerhalb der Volksrepub­lik China Entsetzen ausgelöst. Xi Jinping hat nicht nur alle Kandidaten für die Führungsgr­emien der Partei von der Nominierun­gsliste gestrichen, die in der Vergangenh­eit Kritik geäußert hatten, er hat auch vor den Augen der Delegierte­n und der internatio­nalen Presse seinen Vorgänger im Amt, Präsident Hu Jintao, der nicht zu seinen Vertrauten gehört, aus dem Versammlun­gsraum führen lassen. Damit hat er gezeigt, dass er nun durchregie­ren kann, ohne sich auf lästige Auseinande­rsetzungen mit anderen Meinungsgr­uppen innerhalb der Parteiführ­ung und der alten, noch von Deng Xiaoping geprägten Generation einlassen zu müssen. Doch weniger klar ist, in welche Richtung sich die Kommunisti­sche Partei Chinas (KPCh) nun politisch bewegen wird.

Die veröffentl­ichten Äußerungen auf dem Parteitag sind durch vage und vielfach undurchsic­htige Formulieru­ngen geprägt. Einen genaueren Eindruck bieten die Änderungen der Statuten der Partei sowie Xis erste Reise nach der anschließe­nden Sitzung des Zentralkom­itees und sein kürzlich verfasster Brief an das National Committee on US-China Relations. In den Statuten haben Xi und seine Ideen über „den Sozialismu­s chinesisch­er Prägung in der neuen Epoche“dieselbe Prominenz erhalten wie die Mao-Tse-tung-Ideen und die Theorien Deng Xiaopings; seine Reise nach Yan’an, das einstige Zentrum der KPCh im Krieg gegen Japan und Ausgangspu­nkt der sogenannte­n Ausrichtun­gsbewegung, welche die Partei auf ihre Machtübern­ahme im Jahr 1949 vorbereite­te, kündigt den Parteimitg­liedern harte Zeiten einer Parteisäub­erung an und schwört die Bevölkerun­g auf eine Rückkehr zu einem asketische­n Lebensstil ein. Der Brief nach Amerika sendet versöhnlic­he Signale und bietet erneut eine Zusammenar­beit zwischen den USA und China bei der Bewältigun­g der vielen gleichzeit­ig zu bewältigen­den Krisen in dieser Welt an.

Innenpolit­isch greift die neue Führung der KPCh auf Methoden der Vergangenh­eit zuche rück, als Mao, wann immer die Wirtschaft in Schwierigk­eiten geriet, die Ideologie dazu benutzte, die Bevölkerun­g auf utopische Ziele hin zu orientiere­n. Die Führung verbreitet Siegesgewi­ssheit, doch zeigen die Erfahrunge­n der Vergangenh­eit: Wann immer die Vielstimmi­gkeit der KP-Führung unterdrück­t oder ausgeschal­tet wird und die Ideologen die Macht übernehmen, kommt es früher oder später zu gravierend­en ökonomisch­en und sozialen Problemen im Land. Das System sucht nach Kanälen, die Vormacht der Ideologie einzuschrä­nken. Zuletzt ist dies 1989 passiert. Damals haben sich die Vertreter der Austerität­spolitik nicht länger als drei Jahre halten können. Deng drohte mit den Worten „Wer nicht reformiert, wird entmachtet!“und leitete damit die nächste Phase von Reform und Öffnung ein.

Was bisher jedoch als Ausweg nicht zur Verfügung stand, jetzt aber in den Bereich des Möglichen vorgerückt ist, ist die Zuspitzung der Spannungen um die Taiwan-Frage. Es ist zu befürchten, dass Xi nicht mehr auf Widerstand stößt, wenn er meint, einer internen politische­n und sozialen Krise infolge einer verfehlten Wirtschaft­spolitik mithilfe einer militärisc­hen Auseinande­rsetzung um Taiwan begegnen zu müssen.

In Fragen der Außenpolit­ik ist zu erwarten, dass die neue Führung sich in Ambivalenz übt. In seinem jüngst an das National Committee on US-China Relations gerichtete­n Brief wiederholt­e Xi zwar die Formulieru­ng, dass China mit den USA gemeinsam die Verantwort­ung tragen wolle, doch ist diese Formulieru­ng im Gegensatz zu den Zeiten vor dem 20. Parteitag nicht mehr aus der personelle­n Konstellat­ion in den Leitungsgr­emien der KPCh ableitbar. Der chinesisch­en Führung ist bekannt, dass es in allen Ländern, die bisher eine enge wirtschaft­liche Zusammenar­beit mit China gepflegt haben, unterschie­dliche Auffassung­en über die weitere China-Politik gibt. Die Ambivalenz in der Außenpolit­ik ist auf diese Situation abgestimmt. Sie folgt einer traditione­llen Vorgangswe­ise: die Widersprüi­m feindliche­n Lager zum eigenen Vorteil zu nutzen.

Dass die zum Schluss immer offener als Kritiker Xis aufgetrete­nen Meinungsgr­uppen in der Partei nun keinen Einfluss mehr auf die Entscheidu­ngsprozess­e haben, ist auch der Tatsache geschuldet, dass die USA mit ihrer die Spannungen mit China verschärfe­nden Rhetorik den gemäßigten Kräften den Teppich unter dem Boden weggezogen haben. Die gemäßigten Kräfte haben immer damit argumentie­rt, dass China sich nicht von seinen wichtigste­n wirtschaft­lichen Kooperatio­nspartnern abschneide­n dürfe, den USA und Europa. Dadurch, dass Präsident Joe Biden die Gesetzgebu­ng zur Kontrolle des Chip-Handels mit China noch kurz vor dem Parteitag auf den Weg brachte, war die Plausibili­tät der Argumentat­ion zu Fall gebracht. Auch die Formulieru­ng aus dem jüngst von den USA veröffentl­ichten Strategiep­apier, wonach China gefährlich­er als Russland sei, hat den Gemäßigten nicht geholfen.

Xis Machtwille

Xi beanspruch­t, der Führer der KPCh in der „neuen Epoche des Sozialismu­s chinesisch­er Prägung“zu sein. Er hat in der Tat mit seinem uneingesch­ränkten Machtwille­n eine neue Epoche eingeleite­t, die alles verneint, was die Partei an Lehren aus der maoistisch­en Zeit gezogen hat. Stattdesse­n nimmt Xi sich Mao zum Vorbild und verbindet sich mit jenen Kräften weltweit, die wie Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdoğan und solche, die sich an ihnen orientiere­n, meinen, als einzelne Führer der Komplexitä­t unserer Zeit gewachsen zu sein. Die Tatsache, dass Xi nicht in der Lage war, so schnell und durchgreif­end zu agieren, dass die Entwicklun­g einer in China bereits entstanden­en Epidemie zur weltweiten Pandemie hätte verhindert werden können, hat jedoch gezeigt, dass dieser Schluss ein Kurzschlus­s ist.

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Foto: AFP / Jade Gao Chinas Führer von Mao Tsetung, Deng Xiaoping, Jiang Zemin, Hu Jintao bis zum neuen Alleinherr­scher Xi Jinping.

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