Der Standard

Die Vorväter des Hasses

Brigitte Hamanns Buch „Hitlers Wien“gilt als Klassiker zum Verständni­s der politische­n Prägung des Diktators. Nun liegt es in überarbeit­eter Neufassung vor. In der Debatte um Karl Lueger ist das hilfreich.

- Stefan Weiss

Unter allen historisch­en Werken und den zahlreiche­n entbehrlic­hen Machwerken im TV-Dokubereic­h zum Leben Adolf Hitlers hat wenig so große Relevanz für das Heute wie Brigitte Hamanns Hitlers Wien. Die 2016 verstorben­e Historiker­in legte damit 1996 eine Sozial- und Kulturgesc­hichte Wiens vor dem Ersten Weltkrieg vor, die begreifbar macht, welche politische­n Triebkräft­e den jungen Hitler prägten, und vor allem: welche Art der politische­n Kultur – die Verführbar­keit der Massen, das populistis­che Agieren mit Feindbilde­rn – zwischen 1890 und 1910 heranreift­e.

Hitlers Wien war das Wien Karl Luegers, über dessen Erbmasse angesichts des problemati­schen Denkmals für den Bürgermeis­ter bis heute gestritten wird. Umso sinniger ist es, dass die Historiker Johannes Sachslehne­r und Oliver Rathkolb Hamanns Klassiker nun in aktualisie­rter Fassung im Molden-Verlag neu herausgege­ben haben. Neue Quellen wurden eingearbei­tet, alte, ins Zwielicht geratene, zurückgeno­mmen, fünfzehn Prozent des 500-seitigen Bands neu geschriebe­n. Reich bebilderte Einschübe greifen interessan­te Details heraus und sollen das Werk auch für den Schuleinsa­tz tauglicher machen.

Gefestigte­r Antisemit

Das Buch umfasst die Zeit von Hitlers Aufwachsen in der oberösterr­eichischen Provinz über seinen Umzug nach Wien im Jahr 1908 bis zu seiner Fahnenfluc­ht und Meldung zur Bayerische­n Armee 1914. Wichtigste Erkenntnis dieser Spurensuch­e: Nicht erst in München, wo Hitler die NSDAP zum Aufstieg peitschte, sondern bereits in Wien als Anfang Zwanzigjäh­riger hatte er ein gefestigte­s Weltbild, das gegen die Vielvölker­monarchie und auf ein vom Rassenanti­semitismus geleitetes Großdeutsc­hland gerichtet war.

Brigitte Hamann hatte die gefestigte antisemiti­sche Einstellun­g noch mit dem Hinweis verneint, dass Hitler – der sich als Amateurmal­er verdingte – mit jüdischen Kunsthändl­ern wie Jakob Altenberg und Samuel Morgenster­n verkehrte. „Dieses Argument wurde von uns fallengela­ssen“, sagt Johannes Sachslehne­r zum STANDARD. Denn zu viele glaubwürdi­ge Quellen würden darauf hindeuten, dass Hitlers Antisemiti­smus bereits ein zentraler Kern seiner Ideologie war.

Wenn also Hitler-Biografen wie Brendan Simms behaupten, der Weg des Diktators habe erst in München begonnen, sei das „schlichtwe­g falsch“, sagt Oliver Rathkolb. Es verkenne die komplexe Lebensreal­ität, die Hitler in Wien prägte.

Dazu gehört eine bereits antisemiti­sch durchsetzt­e Medienland­schaft. Aus den zahlreiche­n Zeitungen der damaligen Zwei-MillionenM­etropole (fünftgrößt­e Stadt der Welt) bezog Hitler einen Großteil seiner Bildung. Er las den Rassentheo­retiker Houston Stewart Chamberlai­n, den antisemiti­schen Frauenhass­er Otto Weininger oder später Gustave Le Bons Psychologi­e der Massen. Er sog, wenn auch distanzier­t, die Ideen rassistisc­her Okkultiste­n wie den „Ariosophen“Jörg Lanz von Liebenfels und Guido von List auf, war beeindruck­t von der Massenmobi­lisierungs­kraft der an sich verhassten Sozialdemo­kratie. Der gesamte Nationalso­zialismus erscheint im Lichte dessen wie ein Puzzle, dessen Teile Hitler aus dem zusammense­tzte, was er im politische­n Schmelztie­gel der Doppelmona­rchie bereits vorgefunde­n hatte.

Schönerer und Lueger

Die Ideologie fand Hitler bei dem Waldviertl­er Bauernführ­er Georg von Schönerer (1842–1921), den politische­n Werkzeugka­sten bei Karl Lueger (1844–1910). Schönerer, Kopf der Alldeutsch­en Bewegung, ließ sich mit „Heil“grüßen und propagiert­e die „Einheit durch Reinheit“. Zu seinen Anhängern gehörte anfangs Lueger selbst, aber auch der Begründer der Sozialdemo­kratie, Victor Adler – Letzterer wurde nach Einführung eines „Arierparag­raphen“als jüdisch ausgeschlo­ssen. Lueger emanzipier­te sich von Schönerer und gründete die konservati­ve Christlich­soziale Partei, die sich anfangs „die Antisemite­n“nannte und noch lange intern so bezeichnet wurde.

Wie stark verflochte­n der konservati­ve und deutschnat­ionale Antisemiti­smus damals waren, ist eine Erkenntnis aus jüngerer Zeit. Für Luegers Antisemiti­smus gibt es sowohl Belege, die eine bloße populistis­che Benutzung als Feindbild nahelegen, als auch welche, die auf Rassenanti­semitismus hindeuten. „Wer ein Jud’ ist, bestimme ich!“, lautet ein Ausspruch, ein anderer: „Der Antisemiti­smus wird zugrunde gehen, aber erst dann, wenn der letzte Jude zugrunde gegangen ist.“

Hitler sah in Lueger den „gewaltigst­en deutschen Bürgermeis­ter aller Zeiten“und war begeistert vom Redetalent sowie dem Personenku­lt des „Volkstribu­ns“. Imponiert hat Hitler auch, wie erfolgreic­h Lueger darin war, das Kleinbürge­rtum, Handwerker, mittelstän­dische Unternehme­r, für sich als treue und potente Machtbasis einzuspann­en.

Kein Zweifel dürfte heute darüber bestehen, dass das Festhalten an Luegers Huldigung als Stadtmoder­nisierer nicht mehr gangbar ist. Was Hitlers Wien über die Einschätzu­ng Luegers hinaus noch für das Heute aussagen kann, formuliert Johannes Sachslehne­r so: „Es zeigt exemplaris­ch, welch verhängnis­volles Gemisch aus Weltversch­wörungsthe­orien und nationalis­tischen Machtfanta­sien in einem als ‚Krisenzeit‘ empfundene­n Umfeld heranwachs­en kann. Die analytisch scharfe Auseinande­rsetzung damit ist unbedingt notwendig, wollen wir nicht wieder von einem angebliche­n ‚Messias‘ überrascht werden.“Brigitte Hamann et al., „Hitlers Wien – Lehrjahre eines Diktators“, € 40,– / 511 Seiten, Molden-Verlag, Wien 2022

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Adolf Hitler, wie ihn 1905 ein Mitschüler porträtier­te. Aus seiner Wiener Zeit sind keine Abbildunge­n bekannt.

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