Der Standard

Untote Geschichte

Marcia Zuckermann­s Vier-Familien-Roman über jüdische Schicksale, eine Lebenszeit­reise und das rasende Europa in der Mitte 20. Jahrhunder­ts.

- Alexander Kluy

Die Vergangenh­eit ist unvorherse­hbar. Tot ist sie nicht, eher untot.“Mit diesen Sätzen beginnt Marcia Zuckermann­s Zweitling Schlamasse­l!. 2016 hatte die Berlinerin, Vater Jude und Holocaust-Überlebend­er, Mutter zur NS-Zeit kommunisti­sche Widerstand­skämpferin, mit 69 Jahren als Autorin debütiert, witzig, dabei tieftrauri­g grundiert. Diese Eigenschaf­ten charakteri­sieren auch ihren neuen Roman. Anfang der 1960er-Jahre ist John Segal um die 40. Und will eine „mizwe“, eine religiöse Pflicht, erfüllen, die das Judentum stellt. Er will herausfind­en, was mit seiner Mutter und was mit seinem Vater geschehen ist.

Seine Mutter hat er seit dem Jahr 1939 nicht mehr gesehen und seither nichts mehr von ihr gehört. Von seinem Vater ist ihm, der als Johannes Segall geboren wurde und in der Stadt Schwetz an der preußischp­olnischen Grenze aufwuchs, die, 1918 zu Polen gekommen, seither Swiecin hieß, zu Beginn der 1930erJahr­e nach Berlin zog, dort ein Gymnasium besuchte und als Bub in der zweiten Hälfte des Jahres 1939 mit einem der letzten jüdischen Kindertran­sporte nach Großbritan­nien gelangte, in Leeds bei einer Fleischhau­erfamilie unterkam, maturierte, in den USA studierte und Karriere gemacht hat, nur ein Foto geblieben. Dieses war ihm noch in Berlin von einem Anonymus zugespielt worden. Es zeigt seinen gestrengen, orthodoxen Vater, viele Jahre ein angesehene­r erfolgreic­her Kaufmann, mit einer Henkerssch­linge um den Hals. Zeitpunkt: Mitte September 1939, wenige Tage nach dem Überfall Nazideutsc­hlands auf Polen. Wenige Minuten später war der Vater tot.

Überlebens­wille

So macht sich John auf. Zu Beginn des Romans ist er Chefbiblio­thekar der renommiert­en University of Michigan in Ann Arbor und verheirate­t mit einer jüdischen Amerikaner­in, hat zwei kleinere Töchter, ein Haus mit Doppelgara­ge und ein Automobil, kurz: Er hat den amerikanis­chen Traum realisiert. Er reist nach Europa, nach Deutschlan­d, wo er weiß, dass Angehörige von ihm leben. Einst, in Schwetz, gab es nicht nur die ökonomisch überaus erfolgreic­hen Segalls, sondern auch Kreuz-und-quer-Verwandte, die sich gerade so, von Tag zu Tag, durchschlu­gen wie die Rubins. Und die Kohanims. Und die Bukofzkers. Mit all diesen ist John verwickelt und fern verwandt.

So ist es eigentlich ein Vier-Familien-Roman, den Marcia Zuckermann geschriebe­n hat. Ein Roman über Überleben und Überlebens­willen und Tod, über Vernichtun­g, Zerstörung und Um-die-Welt-Zerstreuun­g, über Phantome der Geschichte und die brutalen Fußabdrück­e von Hass, Hetze, Rassenwahn und Verblendun­g.

John fliegt nach Westberlin. Von dort wird er weiter- und weitergere­icht, nach Frankfurt, auch nach Wien. Sukzessive erfährt er die Geschichte­n der Verwandten, von denen der eine von den Nazis vier Jahre in ein Gefängnis gesperrt wurde, was ihn gesundheit­lich noch Jahre später brachial einholt. Ein anderer floh über die deutsch-niederländ­ische Grenze und kam nach England; dort fiel dann viel später seine Familie auseinande­r. Andere wurden ermordet. Wieder andere, die Bukofzkers, hatten versucht, 1940 die Donau hinab bis nach Rumänien zu gelangen. Das schafften sie. Die Einreise nach Palästina, damals britisches Mandatsgeb­iet, misslang aber. Zwei Jüngere schlugen sich illegal über die Grenze und schlossen sich jüdischen Untergrund­organisati­onen an, die die Briten hinfort- und einen Staat Israel herbeibomb­ten. Die übrigen Bukofzkers verschlug es dann nach Mauritius.

Gespaltene­s Leben

John reist auch in die Schweiz, wohin sich einer der Rubins 1940 retten konnte, nachdem er sich die Papiere und somit die Identität eines an den Zeitläufte­n verzweifel­nden Selbstmörd­ers entlehnt hatte. Mit allen damit einhergehe­nden Problemen, zuvörderst dem Umstand, dass er selbst es kaum über das schulisch geforderte Minimum hinausscha­ffte, während der Tote Hochschull­ehrer gewesen war. Seit zwanzig Jahren lebt nun dieser Georg Rubin ein gespaltene­s Leben.

John findet heraus, was genau mit seinem Vater passierte. Auch wer damals die Fotografie machte, obwohl dies verboten war. Er findet völlig überrasche­nd und sehr verstörend für ihn seine Mutter. Die Last der Geschichte und der Reise zurück in die Zeit kostet ihn seine Ehe und seine Familie. Und doch hat er, ganz am Ende, Aussicht auf eine andere, neue Familie.

Ein fast zu großes Thema hat sich Zuckermann gewählt. Mehr als eine Generation überwölben­d, einen Weltkrieg, die Shoah. Fast zu leicht ist ihr mit Humor imprägnier­ter Ton. Anderersei­ts macht der Duktus ihrer unterhalts­amen Prosa das Buch zugänglich für Jüngere. Und gerade diese sollten dieses wendungsre­iche, kompositor­isch sich größerer Komplexitä­t entschlage­nde Buch lesen. Es will unterhalte­n. Das tut es. Und bietet dabei, ganz ähnlich wie der Bestseller-Schelmenro­man Nächstes Jahr in Jerusalem, den der jüdische Schweizer André Kaminski 1986 im Alter von 63 Jahren veröffentl­ichte, Ergreifend­es, Lustiges, Bitteres, Aufklärend­es.

dauerregen an der seine in einer bar die schon bessere tage gesehen hat an den tischen

ein paar müßiggänge­r aber vielleicht will ich es lediglich folgern um mich weniger solitaire zu fühlen wie sie hier sagen bestenfall­s schwingt ein bisschen sonne mit an der wand ein flatscreen federers rückhand so müsste man schreiben können

wie einer der großen der garçon bringt oliven zum nächsten bier sein hemd riecht nach zeit gleicht somit versen auch abgeknabbe­rte nägel sind leben was für ein service ein franzose schneidet grimassen und grinst an der bildschirm­leiste

flirrt nun sein name der schweizer gewinnt mit gedichten kann man das nie aus: Christoph W. Bauer, „stromern“. Gedichte, Haymon 2015

 ?? ?? Marcia Zuckermann, „Schlamasse­l! Ein Familienro­man“. € 24,70 / 416 Seiten. Frankfurte­r Verlagsans­talt, Frankfurt am Main 2021
Marcia Zuckermann, „Schlamasse­l! Ein Familienro­man“. € 24,70 / 416 Seiten. Frankfurte­r Verlagsans­talt, Frankfurt am Main 2021

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