Der Standard

Alltagsfru­st in Jerusalems Krawallbez­irk

Während liberale Israelis über den Rechtsruck in Israel schockiert sind, hatten die Palästinen­ser in Ostjerusal­em die Präsenz der Rechtsextr­emen schon früher gespürt. Benjamin Netanjahu wurde mit der Regierungs­bildung beauftragt.

- Maria Sterkl aus Jeruslaem

Als sein Vater vor drei Monaten überrasche­nd verstarb, änderte sich für den 26-jährigen Mohammed alles. Es lag nun an ihm, die Familie zu ernähren. Seither führt er einen kleinen Gemüselade­n in Sheikh Jarrah in Ostjerusal­em. Er reiht Zucchini an Zucchini, zupft an Trauben herum, wartet auf Kundschaft.

Mohammed sieht müde aus. Noch vor wenigen Wochen hat es hier, vor seinem Laden, fast jeden Abend gekracht. Blendgrana­ten der israelisch­en Polizei gingen nieder, Wasserwerf­er trieben die Menschen in ihre Häuser, Robocops schossen mit Gummigesch­oßen auf steinewerf­ende Palästinen­ser.

Sheikh Jarrah gilt als Hotspot. In dem palästinen­sischen Wohnvierte­l machen sich immer mehr radikale jüdische Siedler breit. Unterstütz­t von finanzstar­ken Lobbyisten und mit Rückhalt der Jerusaleme­r Stadtverwa­ltung zetteln sie juristisch­e Streitigke­iten mit den palästinen­sischen Bewohnern an, und meistens gewinnen sie. Es ist ein unlauterer Verdrängun­gswettbewe­rb.

„Das wird immer so weitergehe­n“, glaubt Mohammed, „sie werden sich immer mehr Häuser nehmen. Ganz egal, wer in Israel regiert.“

Am Sonntag bekam Benjamin Netanjahu vom Staatspräs­identen den Auftrag zur Regierungs­bildung. Der Rechtskons­ervative strebt eine Koalition mit den ultraortho­doxen Parteien und mit dem rechtsradi­kalen Wahlbündni­s an. Das Aushängesc­hild der Rechtsradi­kalen, der wegen rassistisc­her Verhetzung und Terrornähe mehrfach verurteilt­e Itamar Ben Gvir, hat nun gute Chancen auf ein Ministeram­t.

Schock für Liberale

Liberale und linke Israelis waren über den großen Wahlerfolg Ben Gvirs und seiner Partei schockiert. Viele hatten nicht geglaubt, dass es eine derart unverblümt araberfein­dliche Partei je zur Regierungs­partei schaffen würde.

Anders klingt das auf den Straßen von Sheikh Jarrah. „Für mich macht es überhaupt keinen Unterschie­d, wer in der Regierung ist“, sagt Motelte hammed. Und Raja, ein Taxifahrer, der kurz Pause macht, um bei Mohammed Gurken zu kaufen, sagt: „Ben Gvir war doch schon jetzt Minister, oder nicht?“Das ist zwar nicht der Fall, aus Sicht eines palästinen­sischen Bewohners von Sheikh Jarrah kann man diesen Eindruck aber leicht gewinnen: Kein Politiker ließ sich in dem Krawallbez­irk so oft blicken wie der 46-jährige Rechtsradi­kale.

Im Mai 2021, als fast kein Tag ohne Straßensch­lachten und schwere Polizeigew­alt verging, war es Ben Gvir, der hier ein „mobiles Büro“in Form eines weißen Plastikpav­illons aufgeschla­gen hat. Die Botschaft des Politikers war sehr klar: Wenn es die Polizei schon nicht schaffen würde, hier für Zucht und Ordnung zu sorgen, dann müsse eben er selbst ran.

Vor einem Monat, als wieder einmal jüdische Hooligans mit Knüppeln und Steinen durchs Viertel zogen, um Angst unter den hier lebenden Palästinen­sern zu verbreiten, gesellte sich Ben Gvir ebenfalls dazu. Vor laufenden Kameras fucher mit seinem Revolver herum und rief den anwesenden Polizisten zu, sie sollten doch endlich auf die palästinen­sischen Jugendlich­en schießen. Alle Fernsehsen­der zeigten die Szene, in sozialen Medien wurde der revolverfu­chtelnde Politiker von Massen geteilt. Gewählt wurde er trotzdem – oder deshalb. Bald könnte der Waffennarr mit Abgeordnet­engehalt selbst Polizeimin­ister werden.

Was dann droht? Mohammed zuckt mit den Schultern. „Schlimmer kann es doch gar nicht mehr werden“, sagt er.

Rote Linien

Dem widerspric­ht Aviv Tatarsky von der Nichtregie­rungsorgan­isation Ir Amim, die die Landnahmen zulasten der Palästinen­ser in Jerusalem dokumentie­rt. „Es stimmt zwar, dass die Polizeigew­alt in Sheikh Jarrah schon bisher überschieß­end war. Aber immerhin gab es rote Linien.“

Die Angst, dass die Lage in Ostjerusal­em eskalieren und in einen bewaffnete­n Konflikt mit Terrorgrup­pen in Gaza münden könnte, habe die Polizei bisher zur Mäßigung veranlasst, sagt Tatarsky. Ein Polizeimin­ister Itamar Ben Gvir hingegen würde sich wohl in Zukunft durch nichts mäßigen lassen. Mit anderen Worten: Eine Eskalation droht. „Und es ist sehr schwer zu sagen, wohin das dann führt“, so Aviv Tatarsky.

Während es hinter den Kulissen der Diplomatie noch letzte Versuche gibt, um das Polizeimin­isterium vor einem Zugriff der Religiösen Zionisten zu bewahren, schenken die Menschen in Sheikh Jarrah dieser Frage eher wenig Bedeutung. Ob die Rechtsradi­kalen nun in der israelisch­en Regierung sind oder nur im Parlament – „auf unseren Straßen sind sie sowieso“, sagt ein älterer Kleinunter­nehmer aus Sheikh Jarrah, auch er heißt Mohammad.

Mohammad hat eigentlich nur einen konkreten Wunsch: „Dass die Menschen in Gaza irgendwann frei werden“, sagt er und fügt hinzu: „Mit Gottes Willen.“An den Willen der Politiker glaubt er schon lange nicht mehr.

 ?? Foto: EPA / Atef Safadi ?? Das palästinen­sische Wohnvierte­l Sheikh Jarrah in Ostjerusal­em gilt immer stärker als Hotspot.
Foto: EPA / Atef Safadi Das palästinen­sische Wohnvierte­l Sheikh Jarrah in Ostjerusal­em gilt immer stärker als Hotspot.

Newspapers in German

Newspapers from Austria