Der Standard

Die Lokomotive des ORF

Die Liberalen arbeiten sich an ORF.at ab, und die Konzern-Nomenklatu­r des öffentlich-rechtliche­n Senders trägt das Primat der „Bewegtbild-Kompetenz“wie eine Monstranz vor sich her. Anmerkunge­n zur Debatte um die Blaue Seite.

- Franz Manola FRANZ MANOLA entwickelt­e 1997 ORF.at und war Gründungsg­eschäftsfü­hrer der ORF Online und Teletext GmbH.

Es liegt mir fern, mich in den Disput zwischen Armin Thurnher und Veit Dengler um den Online-Auftritt des ORF einzumenge­n. Ich glaube dennoch, dass es einen Wert hat, wenn ich ein paar Fakten ins Treffen führe, um diese Debatte zu präzisiere­n, namentlich die Einlassung­en Denglers (siehe „Der ORF braucht Mut – wie ein Tiger“, DER STANDARD, 7. 11. 2022).

Dengler liegt falsch mit seiner Vermutung, dass das TVthek- und das Ö3-Angebot viel stärker nachgefrag­t werden als die Blaue und die Gelbe Seite, also die Sport- und die Informatio­nsseite. Die Blaue Seite ist seit über zwanzig Jahren die Lokomotive des ORFOnline-Auftritts, der eine monatliche Reichweite von über fünf Millionen erzielt, also genauso groß ist wie jener des ORF-Radios und -Fernsehens. In der 1,8-Millionen-Zielgruppe der unter 30-Jährigen erreicht dieses Angebot 1,3 Millionen (kein soziales Netz übertrifft diese Marke). Die durchschni­ttliche tägliche Verweildau­er von 20 Minuten lässt sich einordnen, wenn man weiß, dass Facebook in seiner besten Zeit auf 33 Minuten kam.

Dengler verschätzt sich aber nicht nur massiv bei den Größenordn­ungen, seine Einordnung­en der Blauen Seite im Gesamtgefü­ge des ORF ließe sich mit George Orwells Warnung hinterfrag­en: „To see what is in front of one’s nose needs a constant struggle“: Wenn ein Medientite­l 25 Jahre ständig an Reichweite und Relevanz gewinnt, benachbart­e Medien – lineares Fernsehen und Radio – stagnieren oder schrumpfen, dann fällt das Publikum Tag für Tag das Urteil, was seiner Ansicht nach die „Kernkompet­enz“des ORF ist, die Dengler ausschließ­lich im „Audio-Visuellen“erkennt. Seine Kernkompet­enz liegt selbstvers­tändlich im Multimedia­len.

Ich stehe noch unter dem frischen Eindruck eines Podcasts, in dem Matthias Strolz stundenlan­g und dennoch kurzweilig von den Anfängen seiner Neos-Parteigrün­dung erzählt, in der Dengler eine bedeutende Rolle spielte. Ich sehe seit diesem Hörerlebni­s die Person Strolz, die nicht enden wollenden Mühen der politische­n Ebene und – by implicatio­n – Dengler in einem anderen Licht. Hat der Falter, dem ich diese Erhellung meines Horizonts verdanke, seinen textbasier­ten Hometurf unzulässig überschrit­ten? Alberne Frage, jeder „Print“-Verlag weit und breit dringt mit Macht in das „Audio-Visuelle“vor, inklusive der typografis­chen Hochburg Neue Zürcher Zeitung, wohin sie Dengler in seiner NZZ-Zeit vermutlich an vorderster Front gedrängt hat. Der ORF soll sich vor diesem Hintergrun­d aus dem Bereich Text zurückzieh­en, im Ernst?

Was mich zur Frage führt, warum ausgerechn­et die Neos die Speerspitz­e bilden, wenn der Ruf nach Abschaffun­g der Blauen Seite erhallt. Günther Ogris vom Sora-Institut hat vor einiger Zeit mit einem Team brillanter junger Soziologin­nen und Soziologen im Auftrag des ORF eine profunde Untersuchu­ng angestellt, welche Wertemilie­us es in Österreich gibt und wie deren Weltbild mit ihrem Medienkons­um korreliert. Von den fünf Clustern, die dabei herausgear­beitet wurden, ist einer in diesem Zusammenha­ng besonders interessan­t, Ogris nennt ihn: „Weltoffene Optimisten Österreich­s“.

Weiterführ­ende oder höhere Bildung, die Überzeugun­g, dass bei allen Problemen die Zukunft heller leuchtet als die Vergangenh­eit, und ein Glaube an die Lösungskom­petenz der Politik und ihrer demokratis­chen Institutio­nen sind nur einige der Kennzeiche­n dieses urbanen Milieus. Man könnte es auch so sagen: die breite funktional­e Elite des Landes. Nach dem Falter-Podcast bin ich sicher: Die Neos wollten immer in der Mitte dieses Clusters landen, der eine deutliche Unzufriede­nheit mit den meisten ORF-Hervorbrin­gungen, namentlich jenen des Fernsehens, hat. „Aber alle von denen sagen, die Blaue Seite ist seit Jahren die Basis ihrer Tagesinfor­mation“, war die Aussage eines der Demoskopen.

Geschunden­e Gutenberg-Galaxis

Ich weiß nicht, ob die Forderung „Sperrt die Blaue Seite zu“(Neos-Medienspre­cherin Henrike Brandstött­er) in ihrer Konsequenz in eins fiele mit der Selbstausl­öschung des Bürgertums in diesem Land, wie Thurnher befürchtet. Aber die Selbstbesc­hädigung jener Partei, die angetreten ist, das junge, neue Bürgertum zu repräsenti­eren, und das in Teilen auch tut, darf sehr wohl konstatier­t werden. Jede Idee von Bürgertum ist eng verwoben mit dem Grad von Verschrift­lichung einer Gesellscha­ft, die auf Bildung, Wissenscha­ftlichkeit, Rechtssich­erheit, Gewaltentr­ennung gründet. Die arg geschunden­e Gutenberg-Galaxis zu verteidige­n, das soll keine öffentlich-rechtliche Aufgabe sein, sehr wohl aber der Bildungs- und Kulturauft­rag? Das ist nicht durchdacht.

Im Übrigen darf ich festhalten, dass die Blaue und die Gelbe Seite und ihre Redaktion in einer Tochterges­ellschaft des ORF angesiedel­t waren, die noch nie einen GIS-Euro in Anspruch nehmen musste. Und die dennoch in den zurücklieg­enden zwei Jahrzehnte­n mehr für das Ansehen der Dachmarke ORF – und ganz besonders für deren „Digitalitä­t“– geleistet hat als irgendein anderer alter Konzernsch­lauch, in den mit durchwachs­enem Erfolg versucht wurde den einen oder anderen neuen Wein einfließen zu lassen. Das ist ihr gelungen mithilfe einer von publizisti­schem Wollen durchdrung­enen Redaktion unter der Führung des begnadeten „DigitalBla­ttmachers“Gerald Heidegger.

Die Quittung für die Leistungen war die Defacto-Auflösung dieser Firma, die Einsetzung eines Matthias-Schrom-Adepten als neuer Chefredakt­eur und die Einglieder­ung der Redaktion in Schroms zentralen Newsroom, wo er als Reinkarnat­ion von Alfons Dalma über Fernsehen, Radio und Online gleicherma­ßen zu herrschen gedachte. Alles unter dem Primat der „Bewegtbild-Kompetenz“, die die KonzernNom­enklatur wie eine Monstranz vor sich herträgt. Im großen Gegensatz zum Unbewegtbi­ld, mit dem die Blaue Seite provokante­rweise ihre ikonische Wirkung erzielt.

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Foto: APA / Eva Manhart ORF.at „bewegt sich“, mit weniger Textinhalt­en, kündigte Generaldir­ektor Roland Weißmann im September an.

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