Der Standard

Das laute Echo eines Einschlags

Der Niedergang einer Rakete über Polen hat einen politische­n Nachhall, der wohl noch lange nicht verklungen ist. Zur Frage, woher das Geschoß stammte, gibt es durchaus unterschie­dliche Ansichten.

- ANALYSE: Gerald Schubert

Die nächste Eskalation­sstufe ist vorerst ausgeblieb­en, die erste Erleichter­ung darüber war groß. Doch wer nun glaubt, dass eigentlich nichts passiert ist, als am Dienstagna­chmittag eine Rakete in den kleinen polnischen Ort Przewodów einschlug, irrt sich.

Zum einen sind dabei zwei Personen getötet worden – zwei weitere Zufallsopf­er im russischen Angriffskr­ieg gegen die Ukraine, der seit fast neun Monaten andauert und auf beiden Seiten bereits tausende Menschenle­ben gefordert hat. Zum anderen hat der Vorfall gezeigt, wie rasch die Debatten über die westliche Partnersch­aft mit der Ukraine hochkochen können, sobald die Nervosität der Beteiligte­n steigt.

Dabei schien die Welt zunächst gleich zweimal hintereina­nder aufzuatmen: Schon bald nachdem die Nachricht vom Raketenein­schlag in einem EU- und Nato-Staat die Runde gemacht hatte, signalisie­rten westliche Spitzenpol­itiker, dass man keine voreiligen Schlüsse ziehen und schon gar nicht voreilig reagieren werde.

Das zweite Aufatmen folgte, als die Nato erklärte, es gebe keine Hinweise auf einen russischen Angriff. Der Vorfall sei „wahrschein­lich durch eine ukrainisch­e Flugabwehr­rakete verursacht“worden, sagte Generalsek­retär Jens Stoltenber­g nach einer ersten Analyse. Auch der polnische Präsident Andrzej Duda schloss sich diesem Befund an: „Absolut nichts deutet darauf hin, dass dies ein absichtlic­her Angriff auf Polen war.“

Moskau verantwort­lich

Im Westen war man sich wohl darüber im Klaren, dass man die – vorläufige­n – Untersuchu­ngsergebni­sse vorsichtig kommunizie­ren muss. Die Ukraine, die seit Monaten von Russland bombardier­t wird und einem kalten, dunklen Winter entgegenzi­ttert, sollte nicht das Gefühl bekommen, für den Vorfall verantwort­lich gemacht zu werden. Denn selbst wenn weitere Analysen bestätigen sollten, dass eine fehlgeleit­ete ukrainisch­e Luftabwehr­rakete über polnischem Gebiet abgestürzt ist, so sind es am Ende russische Angriffe, gegen die sich die Ukraine wehrt.

Genau das wurde unmissvers­tändlich zum Ausdruck gebracht: „Russland trägt letztlich die Verantwort­ung, denn es setzt seinen illegalen Krieg gegen die Ukraine fort“, sagte etwa Generalsek­retär Stoltenber­g. Ähnlich äußerte sich am Mittwoch auch US-Verteidigu­ngsministe­r Lloyd Austin.

Der Haken an der Sache: Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj beziehungs­weise seine Militärexp­erten waren da bezüglich der Herkunft der Rakete von Przewodów bereits zu einer anderen Einschätzu­ng gekommen.

Selenskyj hatte den Vorfall als „Botschaft Russlands an den G20Gipfel“bezeichnet, der zeitgleich auf Bali stattfand. Auf den vorläufige­n Befund des Westens reagierte er mit den Worten: „Kann man Fakten oder irgendwelc­he Beweise von den Partnern erhalten?“Er denke jedenfalls, „dass es eine russische Rakete war – gemäß dem Vertrauen, das ich zu den Berichten der Militärs habe“.

Dass er die Einbeziehu­ng ukrainisch­er Spezialist­en bei der Aufklärung forderte, war da nur folgericht­ig. Auch Vasyl Khymynets, der ukrainisch­e Botschafte­r in Wien, sagte am Donnerstag zum STANDARD: „Die Ukraine ist stark daran interessie­rt, Klarheit darüber zu schaffen, um welche Rakete es sich handelt.“

Laut Kiew gab Polen mittlerwei­le grünes Licht, was bereits für ruhigere Töne sorgte. „Solange die Untersuchu­ng nicht abgeschlos­sen ist, können wir nicht mit Sicherheit sagen, welche Raketen oder deren Teile auf polnisches Hoheitsgeb­iet gefallen sind“, so Selenskyj.

Bei den Untersuchu­ngen an einem Strang zu ziehen wäre auch für all jene wichtig, die nicht wollen, dass die europäisch­e Solidaritä­t mit der Ukraine an anderer Stelle weiter geschwächt wird. So sagte etwa bereits Gergely Gulyás, Kanzleimin­ister und enger Vertrauter des ungarische­n Premiers Viktor Orbán, der für sein Naheverhäl­tnis zum russischen Präsidente­n Wladimir Putin bekannt ist, Selenskyj habe „ein schlechtes Vorbild“abgegeben.

Dass es weitaus deftiger geht, bewies die ungarische Zeitung Magyar Nemzet: Statt zu verhandeln, sitze Selenskyj „im khakifarbe­nen Leibchen in seinem Bunker vor einer Kamera“und „beschimpft Putin“.

Das große Ganze

In der Ukraine selbst, die täglich unter russischen Raketenein­schlägen leidet, plädiert man hingegen dafür, auch in der Przewodów-Debatte das große Ganze zu sehen. Gerade der Dienstag war wieder ein Tag mit besonders heftigem Beschuss. „Wir sind sehr unglücklic­h darüber, dass in Polen zwei Menschen getötet wurden“, sagt Botschafte­r Khymynets. „Aber es ist bedauerlic­h, dass auch in Österreich viele erst jetzt realisiere­n, dass in der Nähe ihres Landes Krieg ist.“

 ?? ?? Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj baut auf die Unterstütz­ung der Nato, doch ganz friktionsf­rei ist das Verhältnis nicht.
Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj baut auf die Unterstütz­ung der Nato, doch ganz friktionsf­rei ist das Verhältnis nicht.

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