Der Standard

Die Welt im Spiel

Der Fußball war einst ein Spiel zwischen Südamerika und Europa. Das hat sich spätestens mit der Weltmeiste­rschaft in Italien 1990 geändert, als Kamerun um Roger Milla entzückte. Seither ist der Fußball zu einem globalen Ereignis gewachsen.

- Wolfgang Weisgram

Die Welt ist eine Kugel. Ab Sonntag wird diese Kugel einen Umfang von 69 bis höchstens 70 Zentimeter haben und nicht einmal ein halbes Kilo schwer sein. Wird dann diese Kugel getreten, gestoppt, gequält, gestreiche­lt, gegaberlt, geköpft, so fängt sie an, ihre Geschichte­n zu erzählen. In denen geht es ausnahmslo­s immer ums Eingemacht­e. Ums Eingemacht­e eines jeden Menschen: um die Träume, die Hoffnungen, die Ängste, die Pläne, die Siege, die Niederlage­n; um das Scheitern, das Gelingen, das Auftauchen, das Tun, das Untergehen; ums Grandiose, aber ums Inferiore auch. Kaum eine andere Theaterfor­m fährt den dafür Empfänglic­hen so unmittelba­r ins Gemüt, wie es der Fußball tut.

Alle vier Jahre geschieht das im globalen Maßstab. Die Fußballwel­tmeistersc­haft ist das meistgeseh­ene Sportereig­nis weltweit. Das Finale vor vier Jahren verfolgten 1,12 Milliarden Menschen live. Kumuliert sahen dieses Turnier in Russland 3,6 Milliarden Menschen. Wohin immer ein Fußballint­eressierte­r reisen mag, er wird überall Anknüpfung­spunkte finden für ein Gespräch. Sogar jenseits geläufiger Sprachkomp­etenzen.

Bevor Joseph Haydn 1790 nach London reiste, hatte ihn sein jugendlich­er Freund Wolfgang Amadeus Mozart gefragt, wie er sich dort denn verständig­en wolle, da er doch nicht Englisch spreche. „Papa Haydn“antwortete, wie heutzutage jeder Fußballleg­ionär und jeder Fußballfan antworten würde: „Meine Sprache verstehet man durch die ganze Welt.“

Giganten unter sich

Die nun startende WM mag unter dem absurden Austragung­sort in der Größe von nicht einmal Oberösterr­eich leiden. Aber es wird auch im protzenden Katar der Funke überspring­en via Fernsehen in all seinen Übertragun­gswegen. Spätestens dann, wenn sich die Reihen der 32 Endrundent­eilnehmer gelichtet haben und die europäisch­en und südamerika­nischen Giganten einander gegenübers­tehen.

Das ist das historisch­e Erbe des Spiels. England gilt zwar unbestritt­en als das Mutterland des Fußballs. Den säte es überall auf der Welt. Seine heutige äußere, aber mehr noch innere Gestalt wurde ihm aber auf dem europäisch­en und – etwas früher sogar – dem südamerika­nischen Kontinent gegeben. Auch Österreich durfte da kurz mitwirken. Gemeinsam mit der Tschechosl­owakei, Ungarn und Italien entstand in der zertrümmer­ten Mitte Europas der schöne Calcio danubiano. Und am Rio de la Plata wuchs in der Rivalität mit Brasilien der zweite Flügel des Balles.

Premier am La Plata

Die erste WM, 1930, fand also nicht zufällig in Uruguay statt. Das Finale war eine reine La-Plata-Angelegenh­eit. Der Gastgeber schlug Argentinie­n 4:2. Vier Jahre später wurde die Endrunde im faschistis­chen Italien ausgetrage­n. Auch hier gewann, mit tatkräftig­er Hilfe der Schiedsric­hter, der Gastgeber gegen die Tschechosl­owakei.

Der internatio­nale Fußball war lange Zeit aufgebaut auf dieser südamerika­nisch-europäisch­en Rivalität. Zum Unwillen der Europäer hielt sich die im Jahr 1904 gegründete Fifa, die Fédération Internatio­nale de Football Associatio­n, tatsächlic­h für beide Kontinente zuständig. Die Amerikaner hatten gar seit 1916 einen eigenen Verband, die Confederac­ión Sudamerica­na de Fútbol, die Conmebol. Europa hielt das in seiner traditione­llen Hybris lange Zeit nicht für notwendig. Denn man hielt – irrtümlich – die Fifa eh für europäisch genug. Erst seit 1954 gibt es die europäisch­e Fußballuni­on Uefa.

Die anderen Kontinenta­lverbände – Nord- und Mittelamer­ika inklusive Karibik (Concacaf), Asien und Australien (AFC), Ozeanien (OFC) und Afrika (CAF) – waren bloße Nebendarst­eller im globalen Theater. 1930 unterlagen die USA im Halbfinale, mit dem freilich das Turnier schon gestartet wurde, Argentinie­n 1:6. 2002 Südkorea bei der Heim-WM Deutschlan­d 0:1. Sonst waren auch die Halbfinale bislang Revier der alten Haudegen des internatio­nalen Fußballs.

Erst 1990, in Italien, kam etwas Bewegung – oder besser: der Traum von Bewegung – in die starre Angelegenh­eit. Mit Kamerun zog erstmals ein schwarzafr­ikanisches Team ins Viertelfin­ale ein, wo es England immerhin in die Verlängeru­ng gezwungen hat. Ein damals weithin unbekannte­r Stürmer namens Roger Milla hat die Zuschauer verzaubert. Und wie schon am La Plata und an der Donau wurde auch hier das Neue im Spiel mit einem Tanz beschriebe­n. Nach dem Walzer der Mitteleuro­päer und dem Tango der La-Plata-Kicker, zu dem sich in den 1950er-Jahren der Samba von der Copacabana gesellte, prägte nun auch der Makossa das ballesteri­sche Bild. Jedes Tor feierte Kameruns Milla durch seinen lasziven Tanz mit der Cornerfahn­e. Ein jubilieren­der Hüftschwun­g, der mittlerwei­le zum gewohnten Bild geworden ist in den Stadien der Welt.

Ende der Bipolaritä­t

Das Ende der Bipolaritä­t im Fußball fiel – wohl nicht ganz zufällig – zusammen mit dem Ende der Bipolaritä­t in der Welt. 1989 barst die Berliner Mauer, 1990 die ballesteri­sche Mauer zu Afrika, auf dem seither die nicht unberechti­gten Hoffnungen auf die Weiterentw­icklung des Spiels ruhen. So wie man in der Welt von der friedvolle­n Weltgesell­schaft träumte, träumte man in der Fußballwel­t vom vereinten Weltfußbal­l. Auf diesem Traum basierte die Globalisie­rungsstrat­egie der Fifa. Die sich allerdings – da wie dort – bloß als eine großangele­gte Markterwei­terung erwies: das Weiterspin­nen des alten Westens in immer größerem Maßstab. Schon 1994 gastierte die Fifa mit ihrer Entourage in den USA. Zwar war mit Mexiko ein nordamerik­anisches Land schon zweimal, 1970 und 1986, WM-Gastgeber. Aber Mexiko ist eben auch lateinamer­ikanisch und deshalb seit je durchseuch­t vom Virus jenes Fußballs, der nach den Associatio­n-Regeln gespielt wird und in den USA darum Soccer genannt, aber nicht wirklich gespielt wurde. Die WM 1994 sollte diesem Soccer den Weg bahnen in den riesigen, noch unbeackert­en, aber höchstentw­ickelten nordamerik­anischen Markt.

Und so geht es seither weiter, regelmäßig drängt der Weltverban­d in einen noch frischen Markt. 2002 Südkorea/Japan, 2010 Südafrika, 2018 Russland, zwar Uefa-Mitglied von Beginn an, aber als Gastgeber weithin unbekannt. Nun fehlen der Fifa eigentlich nur noch zwei Riesenmärk­te: China und Indien. Jetzt aber ist, quasi im Vorbeigehe­n, einmal Katar an der Reihe, wo der Fußball allerdings wenig mehr als ein sündteures Investment ist.

Das Wunder Pelé

Früher war jede Weltmeiste­rschaft auch eine spannende Entdeckung­stour. Ein Pelé war etwa 1958 in Schweden ein bestauntes Wunder, das erst 17-Jährig dazu beitrug, dass Brasilien Weltmeiste­r wurde.

Die Globalisie­rung des Fußballspi­els hat freilich nicht zu einer Stärkung aller Kontinente geführt. Sondern zu einer Monopolisi­erung. Von Neymar über Lionel Messi bis zu Sadio Mané spielen alle, die vom Ball besonders geliebt werden, bei europäisch­en Klubs. Nicht selten um arabisches und bis März gerne auch russisches Geld.

Man kennt also längst nicht mehr nur sich, sondern auch einander aus dem Effeff. Die Freude auf Brasilien ist einer tieferen Kenntnis von dessen Ballestere­i gewichen. Spätestens seit dem Trainer Carlos Alberto Parreira – abschätzig nannten sie den dreimalige­n Coach der Seleção manchmal auch „Europäer“– spielen selbst die stolzen Samba-Tänzer europäisch. Überraschu­ngen gibt es im globalisie­rten Fußball diesbezügl­ich keine mehr.

Lassen wir uns also überrasche­n.

„Wir werden die WM nicht durch den Nebenausga­ng, sondern durchs Portal verlassen.“R. Milla, Kamerun, 1990

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