Der Standard

Der EMRK-Mythos

Wer aus der Menschenre­chtskonven­tion austreten möchte, würde in letzter Konsequenz einen EU-Austritt in Kauf nehmen. Das zeigt: Es ist eine Scheindeba­tte, die die ÖVP losgetrete­n hat.

- Ralph Janik RALPH JANIK ist Universitä­tslektor für Völkerrech­t in Wien, Budapest und München.

Gehört überarbeit­et“, „exzessive Umund Weiterinte­rpretation durch den Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte“, „das Recht hat der Politik zu folgen“. Die Europäisch­e Menschenre­chtskonven­tion (kurz EMRK) ist in den letzten Jahren zu einer Art pauschalem Sündenbock geworden. Die eigentlich­en Fragen unserer Zeit – von einer sinnvollen Migrations­politik bis hin zu den Hauptursac­hen gescheiter­ter Abschiebun­gen – bleiben indes unbehandel­t.

Was ist die EMRK? Die Europäisch­e Menschenre­chtskonven­tion ist ein 1950 beschlosse­ner multilater­aler Vertrag, mit dem mittlerwei­le 46 europäisch­e Staaten (Russland wurde zu Beginn des Angriffskr­iegs gegen die Ukraine aus dem Europarat ausgeschlo­ssen) einander die Achtung der darin enthaltene­n Menschenre­chte zusichern.

Heute ist die Welt eine andere geworden, das bezweifelt niemand. Nur: Die EMRK ist kein Schönwette­rvertrag, ganz im Gegenteil. Ihr historisch­er Hintergrun­d ist der Horror vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Vielleicht beinhaltet sie gerade deswegen keine Bestimmung zu Asyl. Die damaligen Verhandler haben ihre Augen vor diesem Thema verschloss­en, obwohl in den Jahren zuvor Millionen Menschen geflohen sind. Unbehandel­t blieb es damals freilich nicht, wir finden eine Bestimmung zum Recht auf Asyl in der allgemeine­n Erklärung der Menschenre­chte von 1948, drei Jahre später wurden die Rechte von Flüchtling­en in der Genfer Flüchtling­skonventio­n verschrift­licht.

Dennoch war die Behandlung von Flüchtling­en über Umwege stets im Vertragste­xt der EMRK angelegt. Schließlic­h besagt sie, dass niemand gefoltert, unmenschli­ch oder erniedrige­nd behandelt oder willkürlic­h getötet werden darf. Ohne Ausnahmen, auch nicht im Krieg, auch nicht Terroriste­n und sonstige Intensivst­raftäter. Dahinter steht der simple Gedanke, dass es Dinge gibt, die kein Mensch verdient hat – zumal obendrein die Gefahr überborden­der oder missbräuch­licher Anwendung besteht, also auch Unschuldig­e gefoltert oder getötet werden könnten.

Quo vaditis, Menschenre­chte?

Daher sollen Staaten weder selbst jemanden foltern oder grundlos töten noch jemanden in ein Land abschieben oder dorthin ausliefern, wo eine derartige Behandlung ernsthaft droht. Abschiebun­gen in Bürgerkrie­gsländer sind ebenso unzulässig wie in Diktaturen, in denen mutmaßlich­e „Staatsfein­de“– und wer abgeschobe­n wurde, kann in der Heimat schnell als verdächtig gelten – willkürlic­h verfolgt werden.

Ein Thema, das erstmals 1961 (!) aufgekomme­n ist. Schon damals hat die mittlerwei­le abgeschaff­te Europäisch­e Menschenre­chtskommis­sion betont, dass eine Abschiebun­g nicht zu einer Verletzung des Verbots von Folter, unmenschli­cher oder erniedrige­nder Behandlung gemäß Artikel 3 EMRK führen darf.

Drei Jahre später wurde festgehalt­en, dass das auch für gesuchte Straftäter gilt. Auslöser war übrigens ein jugoslawis­cher Staatsbürg­er, der von Österreich in seine Heimat ausgeliefe­rt werden sollte.

Die bis heute richtungsw­eisende Entscheidu­ng des Europäisch­en Gerichtsho­fes für Menschenre­chte (EGMR) stammt indes aus dem Jahr 1989: Konkret ging es um die Frage, ob eine Auslieferu­ng in die USA rechtens ist, wenn dort die Todesstraf­e droht. Der Betroffene – der deutsche Staatsbürg­er Jens Söring – hatte erfolgreic­h argumentie­rt, dass die Wartezeit in der Todeszelle erniedrige­nd sei. Eine Auslieferu­ng durch das Vereinigte Königreich war daher nur unter der Bedingung möglich, dass die Todesstraf­e nicht verhängt wird (Söring wurde übrigens 2019 freigelass­en).

Kurz darauf dehnte der EGMR diese alte und simple Feststellu­ng auf Asylwerber aus: Die Ratio ist dieselbe, kein Staat soll Quasibeitr­agstäter bei einer Verletzung von Artikel 3 EMRK sein und dementspre­chend niemanden in ein Land abschieben, in dem ein hohes Risiko einer solchen besteht.

„Auch die Menschenre­chtskonven­tion gehört überarbeit­et.“ÖVP-Klubchef August Wöginger im STANDARD-Interview

Womit wir bei des Pudels Kern wären: Die EMRK schränkt den staatliche­n Spielraum bei Abschiebun­gen in der Tat ein. Nur: Damit ist sie nicht allein. Deckungsgl­eiche Verpflicht­ungen ergeben sich auch aus dem UN-Pakt über bürgerlich­e und politische Rechte, der Antifolter­konvention oder der EU-Grundrecht­echarta. Wer die EMRK abändern oder aus ihr austreten will, müsste also eine Reihe weiterer Verträge grundlegen­d umformulie­ren oder verlassen, inklusive eines EU-Austritts.

Wer all das fordert, sollte außerdem offen sagen, dass er kein Problem damit hat, wenn Österreich drohende Misshandlu­ngen zwar nicht selbst ausführt, aber aktiv unterstütz­t, indem es die Betroffene­n einer solchen Situation aussetzt. Das wäre immerhin konsequent. Abgesehen davon sind die Menschenre­chte ohnehin nicht das Haupthinde­rnis bei Abschiebun­gen, scheitern sie doch aus den unterschie­dlichsten Gründen: von organisato­rischen Schwierigk­eiten bei Abschiebef­lügen oder behördlich­er Überforder­ung über die fehlende Kooperatio­n der Herkunftsl­änder bis hin zu Fällen, in denen man gar nicht weiß, woher die Abzuschieb­enden eigentlich kommen. Verlässlic­he Daten gibt es dazu aber keine. So genau will es ohnehin kaum jemand wissen. Zur Not ist eben die EMRK schuld.

 ?? ?? ÖVP-Klubchef Wöginger spaltet mit seinen Asylplänen die eigene Partei.
ÖVP-Klubchef Wöginger spaltet mit seinen Asylplänen die eigene Partei.

Newspapers in German

Newspapers from Austria