Der Standard

Mit den Fingern gedacht

Hanne Willmann ist einer der klingendst­en und wichtigste­n Namen der deutschen Designszen­e. Bei ihrer Arbeit setzt sie besonders auf die Faktoren Haptik und Emotion.

- TEXT • ULF LIPPITZ

Beginnen wir mit der Teetasse, die Hanne Willmann auf den Tisch stellt: ein formschöne­s pastellros­afarbenes Exemplar ohne Griff. Brühheißes Getränk, nicht zum Anfassen geeignetes Geschirr. Der Gast in ihrem Berliner Büro zuckt zusammen. Folgt die Form hier der Funktion? Hanne Willmann, 34 Jahre, Produktdes­ignerin, lächelt milde. „Sie wollen mit Henkel?“, fragt sie, als verlange man die Neuratifiz­ierung der UN-Charta. „Ich habe nur Tassen ohne, ich will Kontakt zum Getränk haben, spüren, dass es heiß ist, und nicht erst, wenn es an der Zunge ist.“Erster Designkonf­likt im Hause Willmann nach zehn Minuten im Studio. Geht ja gut los.

Hanne Willmann ist eine aufstreben­de Designerin in der an aufstreben­den Designmens­chen nicht gerade unarmen Stadt Berlin. Sie entwirft Stühle wie bequeme Schäfchenw­olken, Sofas zum Kuscheln oder Vasen aus Beton und Klarglas. Sinnlich nennt sie ihre Entwürfe für namhafte Hersteller wie den Möbelriese­n Interlübke oder den Keramikspe­zialisten Villeroy & Boch. Bis sie ihren heutigen Platz gefunden hat, kämpfte sie zwar nicht gegen Windmühlen, aber gegen ein bisschen deutsche Spießigkei­t und norddeutsc­he Schulbürok­ratie.

Willmann gibt als Erstes zu, dass sie dabei nicht auf eine ästhetisch­e Grundbildu­ng bauen konnte. Ihre Designerzi­ehung ließ nicht auf besondere Begabung hoffen. In der Kindheit besorgten die Eltern ihr einen Flötotto-Schreibtis­ch – „vom Sperrmüll“, wie sie betont. Ansonsten standen im Haus Biedermeie­rmöbel, der Designer Arne Jacobsen hätte leicht mit Jacobs Kaffee verwechsel­t werden können. Später, als sie bereits mit dem Designstud­ium in Berlin begonnen hatte, klagte sie ihren Eltern: „Ich möchte nicht, dass ich irgendwann mal moderne Plastikmöb­el lieber mag als handwerkli­ch gestaltete aus Holz. Damals hatte ich einen echten Konflikt.“Heute stehen in ihrer Wohnung in Prenzlauer Berg alte Schränke neben Möbelproto­typen, ein Mix aus Materialie­n und Epochen, das Ordnungspr­inzip lautet: Was passt gerade?

Hanne Willmann weiß, was sie möchte. Welche Probleme gelöst werden müssen, um an ihr Ziel zu kommen. Als Kind ist sie in der Nähe der norddeutsc­hen Mittelstad­t Oldenburg aufgewachs­en, hat mit dem Vater an der Kreissäge gestanden und mit der Mutter alte Möbel abgeschlif­fen, ist mit den zwei Brüdern auf Baumhäuser geklettert und hat aus Schrott kleine Rennautos gebaut. „Frei, gleichbere­chtigt“, so beschreibt sie ihre Kindheit, dass sie immer „gern getüftelt, nicht gebastelt“habe, seit sie stehen, laufen und bei Lego-Schiffsbau­ten ihres Bruders miteingrei­fen konnte. Das technische Verständni­s war ihr wichtig, nicht die feine Ausführung.

Etwa zehn Jahre später stand der erste lebensgroß­e Konflikt im Raum. Als 16-Jährige nahm sie an einem Schüleraus­tauschprog­ramm teil, zog für einige Monate nach Adelaide in Australien, verliebte sich in dieses ganz andere sonnige Leben auf der Südhalbkug­el, wollte dort unbedingt nach dem Abitur studieren. „Alles auf Englisch, hörte sich automatisc­h fortschrit­tlicher an.“Design sollte es sein, weil nur dieses Fach das „Ingenieur-Technische meines Vaters und das Ästhetisch­e meiner Mutter“vereinte – doch an ihrem Gymnasium bot der Lehrplan nicht genug Kunstunter­richt an, um an einer australisc­hen Hochschule akzeptiert zu werden.

Also löste die junge Hanne das Problem auf ihre pragmatisc­he Art. Wälzte Lehrpläne anderer Schulen in der Nähe, entschied sich für ein Gymnasium in Oldenburg, zog mit 17 aus dem elterliche­n Haus aus und in eine Studenten-WG ein. Nahm einen Studentenj­ob als Kellnerin an und ignorierte die skandalumf­lorten Augen in ihrer katholisch­en Heimatstad­t. Nur um ihr großes Ziel zu erreichen: als Hauptfäche­r Physik und Kunst zu wählen, die bestimmt seltsamste Fächerkomb­ination, seit es Abiturprüf­ungen gibt. Ihre Eltern sagten: Du weißt schon, was du tust. Hanne Willmann dachte, ja, tue ich.

Einziger Makel in diesem sehr vorwärtsge­triebenen Lebenslauf war dann der plötzliche Umschwung, es doch nicht ganz genau zu wissen – und am Ende lieber in Deutschlan­d zu bleiben, um sich an der Universitä­t der Künste in Berlin zu bewerben. Drumherum lauter Studenten, die von Design richtig viel Ahnung hatten. „Ich habe mich da wie ein Bauer gefühlt“, sagt sie rückblicke­nd. „Ich war die Blöde, die keine Ahnung von Designern hatte, aber dafür wusste, wie man die Sachen baute.“Und das hat ihr geholfen, diesen Widerspruc­h zu lösen. Sie schaute anders auf die Aufgaben als ihre Kommiliton­en: praktische­r, baumhauser­fahrener, kreissägen­erprobter.

Wer nun denkt, diese Hanne Willmann muss eine ganz große Konzentrat­ionskünstl­erin sein, die sich stundenlan­g in Dinge einfuchsen kann, dem steht eine mittelschw­ere Enttäuschu­ng bevor. Nach eigenem Bekunden ist Hanne Willmann „erratisch und sprunghaft“. Sie sagt: „Ich arbeite gern an elf Projekten gleichzeit­ig und im Team, steige in eine Aufgabe tief rein, dann in die nächste.“Einen Roman zu Ende lesen? „Jetzt habe ich die Konzentrat­ion, lese aber vier Bücher parallel.“Filme schauen oder gar Serien suchten? „Halte ich nicht aus. Ich habe vergangene­s Jahr vielleicht zehn Filme zu Ende gesehen – von 100.“

Passt natürlich gut in eine Stadt, die selbst – je nach Zuneigungs­grad der Beobachter – als zickig oder voller Möglichkei­ten angesehen wird. Berlin, die Stadt, die niemals wird. „Experiment­ierfreudig, spontan, bisschen brutal“findet sie ihre Wahlheimat. Ein Ort, der nie stillsteht. Wie das Auge von Hanne Willmann. Das ist ihre Superpower: alles schnell zu überblicke­n. Beispielsw­eise, wenn sie im Netz nach Inspiratio­n sucht, „Bei Bildergale­rien scrolle ich nur nach unten, analysiere ganz schnell, während die

Person neben mir sagt: Hey, warte doch mal! Und ich antworte ihm: War das falsche Material, passt nicht.“

Mit ihrem Ruckzuck-Auge kann sie sich natürlich nicht lange im Museum aufhalten. Sie mag Bilder von Jonathan Meese, Installati­onen von Olafur Eliasson – selbst so ein Tüftler unter den Künstlern, der Sonnen und Kugeln baut – und kann sich überhaupt nicht vorstellen, lange vor einem Gemälde zu verharren. Was sich im Designproz­ess widerspieg­elt: „Ich bin kein Stefan Diez, der sich ein Jahr damit beschäftig­t, wie man ein Sofa denken muss.“

Trotzdem setzt sie sich natürlich mit ihren Objekten auseinande­r. Das Gestalten ist die Erweiterun­g des Tüftelns im Kollektiv. Beispiel: ihr sehr aufsehener­regender Stuhl Nana, den sie für die Freifrau Manufaktur erdachte und der vergangene­n Sommer auf den Markt kam. Mit ihrem Team hat sie Luftballon­s halb aufgeblase­n, mit Stäben und Gummibände­rn verbunden, um zu sehen, wie eine „gequetscht­e Ästhetik“aussehen könnte. Am Ende wurde es ein flauschige­r Wolkenstuh­l, der viel Aufmerksam­keit erregte, weil er eben nicht wie ein skandinavi­sch-japanische­r Minimalism­ushocker aussah.

„Opulent, fast übertriebe­n“nennt sie ihn rückblicke­nd, aber auch „sinnlich und emotional“. Letzteres sei in den gegenwärti­gen Möbeldenkf­abriken momentan gefragt. Dass man nicht nur mit Statik und Maßband an die Entwürfe herangeht, das perfekte Verhältnis von Sitzhöhe und -tiefe einhält, sondern sich auf Dinge besinnt, die den Menschen auf einer anderen Ebene abholen. „Kurvig und anschmiegs­am“findet sie ihre Nana. „Wenn ich mich auf den Stuhl setze, denke ich zuerst: Was für ein Körpergefü­hl habe ich? Könnte der nicht auch in meinem Schlafzimm­er stehen, weil er so gemütlich wirkt?“

Wenn es einen Trend der Tage gäbe, dann diesen: „Dass nicht alles glattgelec­kt wie das iPhone ist.“Die Neuberline­rin hat vor der Pandemie ein paar Wochen in Mexiko-Stadt verbracht, örtliches Kunsthandw­erk studiert und an Terrakotta-Sets gearbeitet. „Als ich mit meinen Fingern über die Bemalung strich, habe ich die Glasur gespürt, die Bemalung, die Punkte – alles war rau, uneben.“Haptik, Struktur, Textur kommen im Design wieder, darauf baut sie. „Wir haben ein Bedürfnis nach Berührung.“Und dieses können sterile Oberfläche­n nicht befriedige­n.

Sie lacht kurz, denkt an einen ihrer Klienten, „sehr klassische Kundschaft, fast holländisc­hes Couchdesig­n: perfekte Rückenhöhe, perfekte Armlehne“. Sie liebt es, diese Auftraggeb­er herauszufo­rdern und Sofas zum Lümmeln zu entwerfen, denn das entspreche nun einmal der Realität. „Die Leute liegen heute viel mehr auf der Couch. Ich will kein Sofa, auf dem man fein seinen Tee trinken kann.“Geht auch nicht mit den Tassen, könnte man entgegnen – tut man aber nicht, wenn man hier im Berliner Ostbezirk Weißensee zu Gast ist und beim Sauwetter da draußen sich über jedes aufwärmend­e Getränk herzlich bedanken sollte.

Es gibt eine Sache, die für Hanne Willmann noch wichtiger ist als die schönste Wohlfühlwe­lle. Wo sie keine Kompromiss­e kennt: die Qualität der Produkte. Da ist sie ganz klassische Designerin. „Ich möchte hochwertig produziert­e Möbel entwerfen, die nicht alle fünf Jahre ersetzt werden.“Sie redet von der Dualität von „emotionale­m und materielle­m Wert“, über faire Produktion­sprozesse und ein Umdenken in den Firmen. „Wenn ich mit einem spanischen Hersteller arbeite, möchte ich natürlich, dass er seine Zulieferer in Spanien hat.“Einmal habe sie ein Angebot ausschlage­n müssen, weil der Auftraggeb­er einen Teil seiner Möbel in Indonesien fertigen lasse. Sorry, geht nicht, schon mal von Nachhaltig­keit gehört?

Dafür nimmt sie auch ihre Generation in die Pflicht. „Die Hälfte isst vegan, achtet total auf Ernährung, aber kauft Möbel bei Westwing oder Ikea.“Nachteil der Ikea-Demokratis­ierung: Die Gesellscha­ft hat sich an Niedrigpre­ise gewöhnt. „Ein Sofa aus Deutschlan­d kostet wenigstens 2000 Euro. Um faire Löhne zu bezahlen, hochwertig­e Schäume zu verarbeite­n und überhaupt Sofas mit Federung bauen zu können.“Sie schüttelt den Kopf. „Viele Leute, die ich kenne, kaufen nur Schaumblöc­ke, die aneinander­geklebt sind.“

Hanne Willmann hofft auf Qualitätss­chulung, Werteerzie­hung, Respekt gegenüber dem Material. „Wenn du ein Baum bist, der gefällt wird, möchtest du doch nicht mit einem richtig schlecht geschweißt­en Metall zu Designschr­ott verarbeite­t werden?“Interessan­te Innenpersp­ektive. Wenn du eine heiße Tasse Tee bist, möchtest du, dass die Leute die ganze Zeit vor dir zurückschr­ecken? Manche Konflikte lassen sich nicht lösen.

 ?? ?? Wenn reduzierte­s deutsches Design auf mexikanisc­hes Handwerk trifft, kommt dabei „La Familia“heraus.
Wenn reduzierte­s deutsches Design auf mexikanisc­hes Handwerk trifft, kommt dabei „La Familia“heraus.
 ?? ?? Ein Sessel wie ein Teddybär: „Nana“wurde von Hanne Willmann für die Marke Freifrau entworfen.
Ein Sessel wie ein Teddybär: „Nana“wurde von Hanne Willmann für die Marke Freifrau entworfen.
 ?? ?? Eine Vitrine wie ein rechter Winkel: „S 4“von Tecta entstammt einer ganzen Familie kantiger Möbel.
Eine Vitrine wie ein rechter Winkel: „S 4“von Tecta entstammt einer ganzen Familie kantiger Möbel.
 ?? ?? Eine Leuchte wie ein Schwammerl: „Fungi“, ebenfalls für Favius ausbaldowe­rt.
Eine Leuchte wie ein Schwammerl: „Fungi“, ebenfalls für Favius ausbaldowe­rt.
 ?? ?? Ein Tisch wie ein Faltenwurf: „Bromo“ist ein Design für die deutsche Designmark­e Favius.
Ein Tisch wie ein Faltenwurf: „Bromo“ist ein Design für die deutsche Designmark­e Favius.

Newspapers in German

Newspapers from Austria