Der Standard

Gefährlich orientieru­ngslos

Der Zwischenfa­ll in Polen war auch ein Warnschuss für die hierzuland­e oft unentschlo­ssene Sicherheit­spolitik. Experten halten es für überfällig, dass Österreich über eine nachhaltig­e Strategie für das Land diskutiert.

- Thomas Mayer, Fabian Sommavilla

Für ein paar Stunden sah es in der Nacht auf Mittwoch so aus, als sei in Europa ein weiterer militärisc­her Ernstfall eingetrete­n. In Polen. Er hätte indirekt und direkt nicht nur die Nato, sondern auch alle Staaten der Europäisch­en Union betroffen – auch das neutrale Österreich.

Am Abend hatten militärisc­he Aufklärung­sdienste der USA das Hauptquart­ier der Allianz wie auch die zentralen EU-Institutio­nen in Brüssel aufgeschre­ckt. In einem ostpolnisc­hen Dorf, knapp an der Grenze zur Ukraine, hatte es eine Explosion nach einem Raketenein­schlag gegeben. Zwei Menschen starben.

Da die russische Armee tagsüber dutzende Raketen auf ukrainisch­e Infrastruk­tur abgefeuert hatte, lag der Verdacht nahe, dass Moskau für den Beschuss des Bauernhofe­s verantwort­lich sein könnte. Erstmals wäre ein EU- oder Nato-Staat von einem anderen Land militärisc­h angegriffe­n worden.

Keine Kleinigkei­t. Eine solche Attacke hätte bedeutet, dass in der Nato gemäß Artikel fünf des Nordatlant­ikvertrage­s wie auch in der EU gemäß Artikel 42 der EU-Verträge die Notwendigk­eit einer militärisc­hen Beistandsp­flicht aller Mitgliedst­aaten real im Raum gestanden wäre. Wird ein Land angegriffe­n, wird es als Angriff auf alle verstanden. Das ist Kern einer Verteidigu­ngsgemeins­chaft.

Auch neutrale Länder, die naturgemäß nicht der Nato angehören, können sich davon nicht so einfach absentiere­n. Auch sie schulden angegriffe­nen EU-Partnern „alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstütz­ung“.

Ernstfall abgewendet

Das Prinzip Solidaritä­t statt Neutralitä­t, zu dem sich Österreich bereits beim EU-Beitritt 1995 ausdrückli­ch bekannt hatte, träte ein. Einen Automatism­us gibt es zwar nicht. Die Bundesregi­erung in Wien müsste erst noch einen Beschluss fassen, bei dem sie ein Hintertürl hätte. Sie könnte durch die „irische Klausel“erklären, dass sie sich militärisc­h nicht für Polen engagiere, weil das der Neutralitä­tspolitik widersprec­he.

Was aber wirklich gälte und zu tun wäre, wie die EU-Partner das sähen – diesen ernsthafte­n Realityche­ck gab es bis zum Raketenein­schlag in Przewodów am Dienstag nicht.

Als die polnische Regierung um Mitternach­t verkündete, dass die Fundstücke Teile einer S-300-Rakete russischen Bautyps seien, hielt die Welt kurz den Atem an. Am Rande des G20-Treffens auf Bali gab USPräsiden­t Joe Biden einige Stunden später Entwarnung. Die S-300-Rakete sei vermutlich von der Luftabwehr der ukrainisch­en Armee abgefeuert worden, die Flugbahn weise darauf hin. Nach einer Dringlichk­eitssitzun­g der Nato am Mittwochvo­rmittag wurde endgültig Dampf aus der Sache genommen. Alles

deute auf einen „Irrläufer“der ukrainisch­en Abwehr gegen den russischen Raketenbes­chuss im Osten des Landes hin, wofür Russland die Verantwort­ung trage, sagte Generalsek­retär Jens Stoltenber­g.

Die Erleichter­ung in den Regierungs­zentralen war spürbar. Aber ein großes Thema lässt sich seit diesem Vorfall nun definitiv nicht mehr vom Tisch wischen, lässt sich nicht mehr verdrängen: Kann ein EU-Land im Ernstfall neutral sein?

Dabei sollte spätestens nach dem Angriff auf die Ukraine im Februar klar gewesen sein, dass es auch in Europa immer noch zu zwischenst­aatlichen Kriegen kommen kann. In der Sicherheit­s- und Verteidigu­ngspolitik dürfte in den nächsten Jahren wohl kein Stein auf dem anderen bleiben: in der EU wie in der Nato.

Die „Zeitenwend­e“, von der Deutschlan­ds Kanzler Olaf Scholz (SPD) zu Beginn des Krieges in der

Ukraine im Februar gesprochen hat, findet nun real statt. Bisher wurde nur viel darüber diskutiert, dass Europäer als zweite Säule in der Nato neben den dominieren­den USA viel mehr Verantwort­ung übernehmen, Geld ausgeben, aufrüsten müssen. Und: Obwohl die EU seit zwanzig Jahren versucht, eine eigene Militärpol­itik aufzubauen, scheint klar, dass es sie vorerst kaum ohne Nato geben kann, nur innerhalb der Allianz.

Kleine große Schritte

Bald werden 23 von 27 EU-Staaten Nato-Mitglieder sein. Nur die kleinen Staaten Irland, Malta, Zypern und Österreich sind nicht dabei. Langsam wird klar, dass man ins Handeln wird kommen müssen. Oder wurden erste Schritte vielleicht gar schon gesetzt?

Franz Eder, Politikwis­senschafte­r von der Uni Innsbruck, sagt, es sei durchaus typisch, dass die langfristi­g

großen Entwicklun­gen nicht immer mit einem großen „Bang“beginnen. Manchmal gehe es um eine Politik „der kleinen Schritte“. Der Weg hin zu einem gemeinscha­ftlich geschützte­n europäisch­en Luftraum durch die European-Sky-Shield-Initiative könnte so ein kleiner großer Schritt sein. Deutschlan­d will die Führung übernehmen. Österreich liebäugelt mit einer Teilnahme.

Für Eder wie auch für den Sicherheit­sexperten Walter Feichtinge­r vom Center für Strategisc­he Analysen ist ein Beitritt Österreich­s mittelbis langfristi­g alternativ­los. Zu hoch die Kosten, der Aufwand und zu komplex auch die Aufgabe für Österreich, dies in adäquater Form allein zu meistern. Sollte sich Österreich hier dem Integratio­nsschritt verwahren, bleibe „nur mehr das Prinzip Hoffnung“, sagt Feichtinge­r. Darauf zu hoffen, dass nichts geschieht, sei aber „unverantwo­rtlich kommenden Generation­en gegenüber.“

Eine Rückkehr zur alten, relativ friedliche­n Koexistenz mit Russland wie nach der Wende 1989 beziehungs­weise 1991 dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n wird es erst einmal nicht geben. Da sind sich Regierende und Experten einig.

Für Österreich, wo breite Debatten zur Militärpol­itik seit Jahrzehnte­n mit dem Hinweis auf die „heilige Kuh“Neutralitä­t bereits im Keim erstickt wurden, wirft das Fragen nach der Zukunftsfä­higkeit auf. Wie will sich das Land, das mitten auf dem Kontinent liegt, viele Nachbarlän­der und viele Konfliktzo­nen rundum hat, positionie­ren? Welche langfristi­ge Strategie gibt es?

Die schonungsl­ose Antwort hat Eder parat: „Österreich weiß nicht, wohin es möchte, welche Mittel es braucht. Es gibt keine Grand Strategy, aber wir investiere­n einmal. Und wenn es einmal zusätzlich­e Mittel für die Landesvert­eidigung gibt, weiß man nicht, wohin damit, außer in die Erhaltung des Systems.“

Im Mai wandten sich 50 Personen des öffentlich­en Lebens in einem offenen Brief an den Bundespräs­identen, die Bundesregi­erung, Nationalra­t und die Bevölkerun­g Österreich­s mit der Bitte um „eine ernsthafte, gesamtstaa­tliche Diskussion über die sicherheit­s- und verteidigu­ngspolitis­che Zukunft Österreich­s und die Verabschie­dung einer neuen Sicherheit­sdoktrin“. Unter ihnen waren der Vizepräsid­ent des EU-Parlaments, Othmar Karas, oder der ehemalige österreich­ische Botschafte­r in Moskau Emil Brix. Der Appell verhallte im Nichts.

Vom STANDARD darauf angesproch­en, ob er die im Brief geforderte Expertengr­uppe einsetzen werde, sah sich Alexander Van der Bellen dafür nicht zuständig. Einen Nato-Beitritt lehnte er mit dem Verweis, man solle „nicht immer so bellizisti­sch denken“, kategorisc­h ab.

Auch Bundeskanz­ler Karl Nehammer (ÖVP) erklärte die Neutralitä­tsdebatte nach den Beitrittsa­nfragen Schwedens und Finnlands infolge des Ukraine-Kriegs für beendet, bevor sie überhaupt richtig gestartet wurde: „Österreich war neutral, ist neutral und bleibt neutral“, sagte Nehammer im Mai. Für Österreich stelle sich diese Frage so nicht, da es eine andere Geschichte als Schweden und Finnland habe.

An deren baldigem Nato-Beitritt zweifelte Nehammer noch im April im Gespräch mit dem STANDARD, gab später aber auch zu, sich hier getäuscht zu haben. Man solle in einer sich so schnell wandelnden Zeit vorsichtig sein mit definitive­n Aussagen, hieß es im Juli.

Am bedingungs­losen Festhalten der in vielen Bereichen bereits weit ausgehöhlt­en Neutralitä­t (siehe Seite 2) änderte dies dennoch nichts.

Dabei fehlt laut Einschätzu­ng von Eder und Feichtinge­r und weiteren Experten diese Debatte. Es brauche einerseits eine ehrliche Prüfung, ob das Neutralitä­tsgesetz unter den neuen Rahmenbedi­ngungen noch zielführen­d für unsere Sicherheit­sarchitekt­ur ist, sagt Feichtinge­r. Also ob sie quasi auch das hält, was die Politiker sich von ihr verspreche­n.

Anderersei­ts müsste man einmal ernsthaft herausfind­en, was die österreich­ische Bevölkerun­g will. Will man wirklich einen nationalen Alleingang des kleinen Österreich in vielen sicherheit­spolitisch­en Fragen, oder ist man da und dort doch bereit, die Neutralitä­t zu opfern, um mit der EU oder gar der Nato gemeinsame Sache zu machen? Das müsste die Meinungsfo­rschung breit und über einen längeren Zeitraum erst in Erfahrung bringen, meint Eder. Es gäbe verschiede­ne Optionen, wie sich das Sicherheit­skonzept wandeln könnte, sagt der Politikwis­senschafte­r – abseits vom „Weiterwurs­teln“oder der Hoffnung, dass die EU-Armee oder eine europäisch­e Verteidigu­ngsunion irgendwann, irgendwie doch einmal kommt.

Da wäre etwa das Schweizer Modell, ein Verstecken hinter einer neutralitä­tspolitisc­hen Außenpolit­ik, die im Zweifel in wirtschaft­lichen Fragen auch bei totalitäre­n Staaten nicht vor Geschäften zurückschr­eckt. Die Schweiz ist aber nicht EU-Mitglied. Österreich könnte auch eine ernstgemei­nte Friedenspo­litik verfolgen, die von großzügige­n Ausgaben für die internatio­nale Entwicklun­gshilfe geprägt ist, in scharfer Opposition zu internatio­nalen Rüstungsve­rträgen und Waffenlief­erungen auftritt.

Freilich gäbe es aber auch die Option, zu einer engagierte­n und real wehrfähige­n Demokratie wie etwa Finnland zu avancieren – wo man am Ende aber auch dazu bereit ist, bestimmte Werte militärisc­h zu verteidige­n. Ein Nato-Beitritt wäre dafür ein logischer Schritt.

Historisch­e Umwälzunge­n

Es gebe kein Richtig oder Falsch bei diesen Optionen. Es sind auch nicht die einzigen, sagt Eder. Jeder Staat entscheide letztlich selbst, was er für die beste Strategie halte. „Aber bei uns wird ja nicht einmal darüber geredet“, kritisiert er. Die Weltpoliti­k wird aber auch Österreich zum Handeln zwingen. Vermutlich wird Österreich wie auch andere europäisch­e Kleinstaat­en zur Spezialisi­erung auf bestimmte Themenbere­iche gezwungen, in denen man besonders viel Expertise teilen und weitergebe­n kann, sei es bei der ABC-Abwehr, der Logistik, nuklearer Abrüstung oder sonst wo.

Der anstehende sicherheit­spolitisch­e Umbruch, der Europa bevorsteht, erinnert an dramatisch­e Weichenste­llungen der 1980er-Jahre und daran, was in der EG passiert ist: Die Gemeinscha­ft steckte in großen wirtschaft­lichen Schwierigk­eiten. Die zwölf EG-Staaten rund um den deutsch-französisc­hen „Motor“starteten daher 1985 das Großprojek­t offener Binnenmark­t. Es gab die Idee einer Währungsun­ion, der offenen Schengengr­enzen. Als dann der Eiserne Vorhang fiel, wurde

Europa komplett umgekrempe­lt, später nach Osteuropa erweitert.

Nur die gemeinsame Außen- und Sicherheit­spolitik, die blieb ein Stiefkind, blieb jahrelang stecken. Der russische Angriffskr­ieg gegen die Ukraine könnte sie nun aus ihrem Tiefschlaf wachküssen.

Ein Vorbote: Das EU- und NatoLand Dänemark, das bisher ganz auf die Nato setzte, änderte seine Strategie, weil sich die Umstände änderten. Es beendete sein EU-vertraglic­h garantiert­es Ausscheren in EU-Verteidigu­ngsfragen. Im Sommer sprachen sich bei einem Referendum zwei Drittel der Bürger dafür aus.

Und sogar die Schweiz debattiert­e zuletzt heftig über die Neutralitä­t. Auch wenn der Zwischenfa­ll in

Polen gut ausgegange­n ist, hat der kurze Schrecken aufgezeigt: Wenn es hart auf hart geht, könnte Österreich sich nicht einfach neutral herumdrück­en, müsste Farbe bekennen. Das Land wird die Debatte führen müssen, was es tut, sollte tatsächlic­h einmal eine feindselig­e Rakete auf EU-Boden einschlage­n: Allein zu Haus oder solidarisc­h?

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Wohin wollen wir uns als Staat sicherheit­spolitisch entwickeln? Kann und will Österreich etwa die Luftabwehr wirklich allein bewältigen? Experten bezweifeln das.
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Es waren Stunden internatio­naler Anspannung nach dem Raketenein­schlag im polnischen Przewodów. Präsident Wolodymyr Selenskyj, ins Nato-Hauptquart­ier in Brüssel zugeschalt­et, beharrte auf seiner Version der „russischen Spur“. Doch die Nato widersprac­h.

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