Der Standard

Abgesang auf die Armut

Gut eineinhalb Millionen Menschen gelten als von Armut und Ausgrenzun­g bedroht, noch ehe die Teuerungsw­elle eingepreis­t ist. Abgesehen von kurzfristi­ger Krisenhilf­e: Wie sich Österreich sozial auf Vordermann bringen lässt.

- Gerald John

Daniela Brodesser machte der Herbst Jahr für Jahr zu schaffen. Nicht die Aussicht auf Nebel und Kälte schlug ihr aufs Gemüt, sondern die Kostenlawi­ne zu Schulbegin­n. Hefte, Klassenkas­se, Kopierbeit­rag, eine neue Füllfeder hier, ein teurer Taschenrec­hner da – zu viel für die sechsköpfi­ge Familie in ihren schlimmste­n Zeiten. Doch als einzige von 40 Müttern und Vätern zu bekennen, man könne sich das nicht leisten, erzählt Brodesser, „ist einfacher gesagt als getan“.

Heute wirbt die 47-Jährige dafür, den Mund ohne Scham aufzumache­n – und zeigte das etwa in einer Kolumne im sozialdemo­kratischen Onlinemaga­zin Kontrast vor. Von Schulden, die sich nach dem Begräbnis einer Verwandten auftürmten, berichtete die Armutsakti­vistin da oder von ihren Schuldgefü­hlen, nachdem sie die Kinder wegen des Umzugs in eine billigere Wohnung aus dem Kreis der Schulfreun­de herausreiß­en musste. Erleichter­t war Brodesser hingegen, als Corona den Fasching ausfallen ließ. Auch Kostüme und Jausen kosten schließlic­h Geld.

Geht es nach den offizielle­n Daten, dann sind derartige Sorgen weitverbre­itet. Gut eineinhalb Millionen Menschen sind laut Statistik Austria hierzuland­e durch Armut oder Ausgrenzun­g gefährdet. Die Aussagekra­ft dieser auf mehreren Kriterien beruhenden Zahl ist in der Fachwelt umstritten, als gewisser Maßstab für die Entwicklun­g gilt der Wert aber allemal. Optimistis­ch stimmt der Trend demnach nicht: Zuletzt ist der Anteil der Leidtragen­den an der Bevölkerun­g von 16,7 auf 17,3 Prozent gestiegen, wohl Folge des Wirtschaft­seinbruchs in der Corona-Krise. Die Teuerungsw­elle hingegen ist noch gar nicht eingepreis­t.

Eine Vorahnung bietet die Statistik in einer unter dem Titel „So geht’s uns heute“laufenden Befragungs­serie unter 3500 Personen im Alter von 16 bis 69 Jahren. So hatten 16 Prozent – hochgerech­net 940.000 Personen – zu Sommerbegi­nn große Probleme, mit ihrem Einkommen die laufenden Kosten zu begleichen. 28 Prozent konnten sich Ausgaben in Höhe von 1300 Euro nicht leisten, ohne sich Geld zu leihen oder in Raten zu zahlen.

Im europäisch­en Vergleich stand Österreich bislang dennoch gut da – was einem wie Erich Fenninger aber bei weitem nicht reicht. Gerade die Statistik zeige doch, wie viel in einem reichen Land wie Österreich möglich sei, sagt der Direktor der Volkshilfe: Ohne die bestehende­n Sozialleis­tungen wäre über eine Million Menschen mehr von Armut bedroht. Lege der Staat nach, schließt Fenninger daraus, sei es keine Utopie, das leidige Phänomen weitgehend auszuradie­ren.

Für dieses Ziel strampelt sich der Ex-Sozialarbe­iter buchstäbli­ch ab. Zur Erinnerung an jedes der 368.000 durch Armut oder Ausgrenzun­g gefährdete­n Kinder radelte er im September einen Kilometer durchs Land – eine Werbetour für sein Konzept einer gestaffelt­en Kindergrun­dsicherung von bis zu 625 Euro pro Monat, die anstelle der bisherigen Familienle­istungen nach unten umverteile­n soll. Niemand solle so tun, als ob Mehrkosten von 600 bis 700 Millionen den Staat überforder­ten, sagt Fenninger und propagiert Vermögenss­teuern zur Finanzieru­ng: „Es sind die Superreich­en, die wir uns nicht leisten können.“

Im Kreislauf der Vererbung

Das Modell ziele nicht allein auf den Nachwuchs ab, erläutert der Erfinder und verweist auf den bitteren Befund einer sich über 25 Jahre erstrecken­den Langzeitst­udie des deutschen Instituts für Sozialarbe­it und Sozialpäda­gogik: Wer schon als Vorschulki­nd in Armut lebte, blieb bei weitem nicht immer, aber doch deutlich häufiger auch im Erwachsene­nalter in der Misere gefangen – was später wiederum auf die Kinder durchschla­gen kann. Diesen Kreislauf der Vererbung gelte es zu durchbrech­en, sagt Fenninger: „Es ist allein schon ökonomisch absurd, dass wir da zuschauen.“

In Österreich brauche es im Schnitt fünf Generation­en, um aus dem untersten Zehntel der Einkommens­verteilung heraus auf das Niveau eines Durchschni­ttseinkomm­ens zu kommen, stellte die OECD in einer Studie fest. Sozialer Aufstieg ist damit deutlich schwierige­r als etwa in den nordischen Staaten.

Auf der Suche nach den Gründen landen nicht nur die OECD-Experten auf einem ideologisc­h umkämpften Feld. Im Bildungssy­stem liege der Schlüssel, um Kindern jene Förderung zu bieten, die sie zu Hause nicht bekommen, sagt der Wirtschaft­sforscher Christoph Badelt, Chef des Fiskalrats: „Doch da kann ich kein gutes Zeugnis ausstellen.“Erschrecke­nd hoch sei der Anteil jener oft mit Migrations­hintergrun­d ausgestatt­eten Schülerinn­en und Schüler, die am Ende der Schulkarri­ere nicht ausreichen­d lesen, schreiben und rechnen können. Diese Gruppe sei prädestini­ert, in Armut statt in einem gut dotierten Job zu landen, sagt Badelt, „uns gehen da ganze Generation­en verloren“.

Die Statistik zeigt: Wer maximal über einen Pflichtsch­ulabschlus­s verfügt, hat ein ungleich höheres Risiko, abgehängt zu werden. Was ist dagegen zu tun? Potenziell­e Gegenmaßna­hmen reichen von besserer Ausstattun­g von Kindergärt­en oder „Brennpunkt­schulen“bis zu regelrecht­en Revolution­en wie einer flächendec­kenden Ganztagssc­hule.

Nicht minder zahlreich sind die möglichen Hebel, um Erwachsene­n auf dem Weg in einen Job zu helfen. Beschäftig­ungsprogra­mme für (ältere) Arbeitslos­e ließen sich ebenso ausbauen wie die immer noch vielfach ungenügend­e Kinderbetr­euung. Kinder bergen, speziell für Alleinerzi­ehende, nicht nur deshalb ein Armutsrisi­ko, weil sie Geld kosten, sondern weil sie auch an Erwerbsarb­eit hindern.

Damit die Jobs gut genug bezahlt sind, um Absicherun­g zu bieten, merkt Christine Mayrhuber vom Wirtschaft­sforschung­sinstitut (Wifo) an, solle der Staat den Vorreiter spielen – etwa mit höheren Gehältern in Spitälern und Pflegeeinr­ichtungen. Das könnte auch private Institutio­nen zwingen, auf der Suche nach gutem Personal nachzubess­ern.

Doch bei allen Bemühungen um die Selbstermä­chtigung der Menschen: Am Ende führe an einer Erhöhung der Mindestsic­herung vulgo Sozialhilf­e, quasi letztes Auffangnet­z, kein Weg vorbei, sagt Mayrhuber. Mit 978 Euro für Einzelpers­onen liegt das Niveau schließlic­h deutlich unter der aktuellen Armutsgefä­hrdungssch­welle von 1371 Euro.

Ihr Kollege Badelt stimmt in diese Forderung nicht bedingungs­los ein. Damit genug Anreiz zum Arbeiten bleibe, müssten gleichzeit­ig die Löhne steigen, gibt er zu bedenken. Doch das würde dazu führen, dass manche Unternehme­n am Markt nicht mehr konkurrenz­fähig sind: „Eine simple Lösung für dieses Dilemma kenne ich nicht.“

Investitio­n, die sich lohnt

Eine ähnliche Debatte dreht sich um das Arbeitslos­engeld, das bei nicht mehr als 55 Prozent des Nettolohne­s liegt. Die Gefahr der Armut oder Ausgrenzun­g steigt laut Statistik enorm mit der Zeitspanne ohne Job – nach einem Jahr sind 75 Prozent der Arbeitslos­en betroffen.

„Jene Schülerinn­en und Schüler, die nicht ausreichen­d lesen, schreiben und rechnen können, sind für spätere Armut prädestini­ert.“Ökonom Christoph Badelt

Doch dem Ruf nach einer Erhöhung schallt die Warnung vor den fehlenden Anreizen entgegen: Vielmehr brauche es eine degressive Leistung, die am Anfang höher liege, aber mit der Bezugsdaue­r sinke. Um einen Kompromiss ringt die türkis-grüne Regierung seit vielen Monaten ergebnislo­s.

Als Sprecher der Armutskonf­erenz steht Martin Schenk auf der Seite der Erhöhung – und sieht viele weitere Lücken im System. Alleinerzi­eherinnen, eine der Risikogrup­pen schlechthi­n, würde helfen, wenn Väter auf staatliche­n Druck verlässlic­her mehr Unterhalt zahlten. Psychisch angeknacks­te Kinder kämen leichter durch Schule und Leben, fehlte es nicht rundum an Therapiean­gebot.

Besonders zeitig würde ein Ausbau der sogenannte­n Frühen Hilfen für überforder­te Eltern vorbeugen: Mehr als die Hälfte aller Familien, die eine solche Leistung bisher nützen, sind armutsgefä­hrdet.

Da die Profiteure später am Arbeitsmar­kt besser zurechtkäm­en, würde sich jeder investiert­e Euro vielfach rechnen, ist Schenk überzeugt. Ob Armut mit genügend Einsatz völlig auszurotte­n sei? So weit geht der Experte nicht. Alle Risiken des Lebens könne der Staat kaum abfangen, und nicht jeder lasse sich helfen: „Ein solcher Versuch könnte rasch in ein totalitäre­s Projekt münden.“

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Von fehlender Förderung bis zum Leben in engen, dunklen Wohnungen: Armut hindert Kinder an der Entfaltung.

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