Im Wirbel der Varianten und Namen
Widerlegt eine zwölfjährige Chinesin die Steinitz-Variante in der Französischen Verteidigung?
Eine historische Linguistik der Schacheröffnungen steht noch aus, junge Forscher, die ein cooles Dissertationsthema wittern, seien allerdings gewarnt: Die Namensgebung im Schach ist ein seltsames, nicht widerspruchsfreies Gebiet. Der Fantasie sind bei der Benennung von Eröffnungen offenbar keine Grenzen gesetzt. Orte werden gerne verwendet, aber auch die Namen ihrer Erfinder, mitunter sind es Tiere (Igel, Nilpferd, Orang-Utan), die herangezogen werden, weil die Struktur der Position irgendwie an die Spezies erinnert. Mitunter kommt es zu wilden Vermischungen unterschiedlicher Referenzsysteme (wie etwa bei Nimzo-Indisch), die recht stabile Wahlverwandtschaften eingehen. Dass die Bezeichnungen auch von (sprach-)politischer Relevanz sind, zeigen die perfiden Versuche der Umbenennungen von Eröffnungen in der Nazi-Zeit: Alle Varianten, die die Namen ihrer jüdischen Erfinder trugen, sollten neu bezeichnet werden. Häufig sind es Sprachen, die Träger der Bezeichnung sind: Man spielt/spricht Italienisch, Spanisch, aber bei Slawisch oder gar Sizilianisch müssen Terminologieforscher schon tief in ihre Trickkiste greifen, um dem eher willkürlichen Benennungsvorgang Sinn abzugewinnen.
Die Zugfolge 1. e4 e6 wurde schon im Werk des Lucena aus dem Jahr 1497 erwähnt, ihren Namen „Französische Verteidigung“aber erhielt sie erst 1834, als im Korrespondenzwettkampf
Paris auf den Doppelschritt des Königsbauern von London mit dem eher noch ungewöhnlichen 1... e6 antwortete. Seitdem haben sich viele um diese Eröffnung verdient gemacht, der deutsche Großmeister Wolfgang Uhlmann verwendete sie fast ausschließlich. Die Eröffnung ist vielgestaltig: positionell nachhaltig, aber in vielen Varianten auch ungewöhnlich aggressiv.
Eine besondere Partie in der französischen Verteidigung gelang heuer der erst zwölfjährigen Chinesin Miaoyi Lu. Die Hochbegabte – sie stammt aus einer Schachfamilie, ihre Mutter, die sie bei den Turnieren begleitet, ist die Großmeisterin Xu Yuanyuan, ihr Vater ist ein starker Amateur – spielte die Internationale Großmeisterin Lilit Mrkrtchian aus Armenien bei der serbischen Frauenmeisterschaft in Belgrad nachgerade an die Wand. Eine Widerlegung ihres Angriffswirbels in der Steinitz-Variante ist gar nicht leicht zu finden, also Köpferauchen bei den Spezialisten bzw. erhöhter Stromverbrauch bei den digitalen Kollegen in den nächsten Wochen.
Miaoyi Lu – Mrkrtchian Belgrad 2022
1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Sf6 4.e5 Die Steinitz-Variante. Schwarz wird stark zurückgedrängt und hat das typische Problem der Befreiung des „französischen Läufers“auf c8. 4… Sfd7 5.Dg4 Dieser frühe Damenausfall statt des üblichen 5.f4 in Verbindung mit dem nächsten Zug ist ein einfacher, aber schwer zu widerlegender Anschlag auf das schwarze System. 5… c5 6.Sb5 Die Falle ist aufgestellt! Weiß plant 7.Sd6+ und wenn der Läufer den Springer schlägt, folgt der Zwischenzug Dxg7. 6… Sc6 Schwarz ignoriert die Drohung und setzt auf Druck gegen d4. Eine schärfere Antwort wäre 6... cxd4. Nach 7.Sd6+ Lxd6 scheitert 8.Dxg7? an 8… Lxe5. Daher muss Weiß mit 8.exd6 Df6 9.Lg5 De5+ 10.Se2 und eher schlechterer Stellung fortsetzen. Versucht Weiß mit 7.f4 den Punkt e5 zu befestigen, kann folgen 7… Sc6 8.Sd6+? Lxd6 9.Dxg7 Lb4+ 10.c3 [Analysediagramm, Position nach 10.c3]
10… dxc3!! 11.Dxh8+ Sf8 12.Kd1 Db6 und Schwarz steht auf Gewinn. Weiß kann aber viel besser spielen: 7.Sf3 Sc6 8.Lf4 Da5+ 9.Ld2 Db6 10.Sd6+ Lxd6 11.Dxg7 Lxe5 12.Sxe5 Tf8 13.Sd3 e5 14.0-0-0 e4 15.Lh6! mit spannender Stellung. 7.Sd6+ Lxd6 8.Dxg7 Wenn 8.exd6?! 0–0!. 8... Tf8 9.exd6 Sxd4 10.Sf3! Die nächste raffinierte Falle. 10... Sxc2+? Und Schwarz fällt darauf herein. Viel besser war der Verzicht auf die fette Beute mit 10... Sf5! 11.Dxh7 Df6 12.Dh5 mit gleichen Chancen. 11.Kd1! Sxa1? Immerhin konsequent. Nach 11... Sb4 12.Lb5 Db6 13.Df6! Dd8 (13… Dxd6? 14.Lg5) 14.Dh6 kommt Weiß in Vorteil. 12.Lb5!! Nach diesem stillen Zug, der den Sd7 auf ewig fesselt, ist Schwarz verloren.
12… Db6 Auf 12… a6 folgt 13.Lg5 Db6 14.Df6 und Ende.
13.Te1! Droht furchtbar 14.Txe6+, sodass Schwarz keine Zeit bleibt, sich um den Lb5 zu kümmern, z.B. 13… Dxb5? 14.Txe6+ Kd8 15.Lg5+ Sf6 16.Dxf6+ Kd7 17.Se5 matt. 13… Dxd6 14.Lg5 Droht wieder verheerend 15.Df6. 14… b6 Mit der Idee, 15.Df6 mit 15… La6 zu parieren. Zu spät kommt wieder 14… a6 15.Df6 und auf 14... f6 15.Lxf6 a6 16.Sg5 axb5 17.Txe6+. 15.Se5 Die nächste Angriffsressource. Es droht 16.Sxf7! Txf7 17.Txe6+! Dxe6 18.Dg8+ Tf8 19.Dxe6 matt. Auch 15.Sh4 nebst Sf5 hätte schon gewonnen. 15... f6 16.Lxf6 a6 17.Sf7! Der Höhepunkt des furiosen weißen Angriffswirbels. Geht die Dame nach c7 oder f4, folgt Txe6 matt. Daher 17... Txf7 18.Dg8+ Und schon 1-0. Wenn jetzt 18… Tf8 so 19.Txe6+ und wenn 18… Df8 so 19.Txe6+ Te7 20.Txe7+ Kd8 21.Txd7+ Ke8 22.Td8 matt.