Drei Hälften
Über 600 Kurztexte wurden heuer zum Thema „Ausreden“beim FM4-Literaturwettbewerb Wortlaut eingereicht. Wir drucken die leicht gekürzten Anfangspassagen des Siegertextes von Eva Scheidweiler.
Die Oma hat immer ein bisschen nach dem Opa gerochen, der sie ab und zu verdroschen hat, wenn ihm etwas nicht geradeaus gegangen ist. Ich weiß nicht, warum die Oma keinen eigenen Geruch hatte, vielleicht weil sie sich nicht getraut hat. Die beiden sind seit vier Jahren tot. Die Oma ist am Brustkrebs gestorben, der Opa am Kummer, weil die Oma nicht mehr da war. Ich hab einmal gehört, dass sich der Krebs von der Angst, den Sorgen und der Verzweiflung der Leute ernährt. Jede Träne, die ein Patient herausdrückt, ist in Wahrheit der Schweißtropfen einer Krebszelle, die sich gerade unter großer Anstrengung teilt. Und da beißt sich dann die Katze in den Schwanz, weil natürlich hat man Sorgen, wenn man Krebs hat, haben soll man die aber nicht, damit man ihn wieder los wird. Beim Opa war der Kummer schneller als der Krebs. Hut ab vor dem Kummer!
Ich lasse mich auf den Stuhl fallen und nehme mein Handy in die Hand. Andi bringt die Kinder ins Bett und ich versuche nachzuholen, was ich untertags verpasst habe. Ich kenne heute noch nicht einmal den aktuellen Stand der Corona-Zahlen und auch nicht das Ergebnis der Wahlstimmenauszählung in Frankreich. Dabei sind alle Zahlen jetzt schon zehn Stunden alt und damit auch schon wieder überholt. Das Handy zeigt noch zwei Prozent Akku an. Ich mühe mich leise schimpfend von meinem Sessel auf, weil das eigentlich für die nächste Stunde nicht geplant war und tausche mein Telefon gegen Andis aus. Die Face-ID erkennt mich nicht gleich. Beim zweiten Mal klappt’s. Ich öffne die Nachrichten-App und fange an zu wischen. (...)
Ladehemmung im Hirn
Eine Nachrichtenvorschau poppt am oberen Ende des Bildschirms auf „miss u like hell“. Ich verstehe nicht, reagiere nicht sofort. Ich nehme die Ladehemmung in meinem Hirn wahr, kann mich nicht organisieren. Was ist das? Die Vorschau verschwindet und ich trau mich nicht, ihr nachzulaufen. Ich verharre einen Moment, schaue ins Loch neben dem Bildschirm. Noch eine Nachricht „hey hun, bist du blocked? ist sie neben dir? poor baby!“, ein Teddybär, der ein Herz umarmt, und drei pulsierende pinke Herzen blinken am Ende der Nachricht. Ich tippe auf WhatsApp und sehe die beiden Nachrichten vor mir, keinen alten Chatverlauf.
Der Cursor blinkt im Antwortfeld und ich tippe wie in Trance „yeah, sorry“, spüre, wie sich der Magen bereit macht zu kotzen. Ich suche nach dem Button, der zu den Emojis führt, die ich selbst – bis auf eines – nie benutze. Ich entscheide mich für ein Männchen, das resignierend die Handflächen nach oben hält, und einen Bussi-Smiley. Ich schicke die Nachricht ab. Mein Herz rast, ich kann mich kaum ausreichend mit Sauerstoff versorgen. „love ya, gn8. see ya tomorrow“kommt sofort zurück. Und Herz. Herz. Bussi. Bussi. überkreuzte Finger. Ich starre ungläubig auf das Display.
Andi kommt von oben und setzt sich zu mir an den Tisch. Ich schiebe ihm tonlos das Handy hin. Er schaut auf das Display und schweigt. Er schaut mich nicht an und schweigt. Das reicht mir als Antwort auf die Frage, die ich nicht gestellt habe. Ich stehe auf und gehe. Ich ziehe meine Jacke an und verlasse das Haus, befinde mich in einer Art Schockstarre, bewege mich mechanisch und kann meine Beine nicht kontrollieren. Sie stelzen hölzern vor sich hin, ohne die Richtung zu kennen, in die sie stolpern. Ich fühle mich an wie ein leerer runzeliger Luftballon, der schon viermal aufgeblasen und wieder ausgelassen wurde. Nun kleben die ausgeleierten Latexwände müde und kaputt aneinander und ergeben ein Bild totalen Verbrauchs. In mir ist gerade so viel, dass es sich anfühlt, als wäre es nichts. (...)
Lass uns reden
In der Früh höre ich oben im Schlafzimmer den Radiowecker mit den Sechsernachrichten losgehen. Ich setze mich auf und verstehe sofort, wo ich bin. Verstehe nicht, wie ich so tief schlafen konnte und mich nicht einmal an einen Traum erinnern kann. Das Gästezimmer ist kalt, es hatte keinen Gast erwartet und konnte sich nicht vorbereiten. So wie ich. Ich weiß, dass ich den Tag normal losgehen lassen muss. Schule, Kindergarten, Jause, Kaffee, Müsli, Zähneputzen, Gummistiefel, Maske nicht vergessen. Ich gehe in die Küche und Andi holt mich ein. Er fasst mich an den Schultern und dreht mich zu sich um. „Elin“sagt er ruhig. Ich schweige ihm so laut ins Gesicht, dass er sofort versteht und mich loslässt.
„Bitte. Bitte lass uns reden!“, sagt er. Ich bin froh, dass die Kinder herunterkommen und sich an den Tisch setzen. Ich nehme das Brot aus der Lade und lege es aufs Brett. Andi ist bei uns fürs Brot zuständig, weil ich kein Brot aufschneiden kann. Meine Scheiben werden dick und schief, das kann man mit Butter und Marmelade nicht ausgleichen. Jetzt komme ich mir dumm vor. (...) Ich male mir aus, wie er ihr später erzählen wird, dass ohne ihn in der Früh daheim nichts geht, nicht mal Brot aufschneiden. Und sie lacht elf verschiedene Smileys in sein Gesicht. Das erste Mal seit 14 Jahren ist unser Brotritual nicht charmant, sondern peinlich. Ich steche dem Brot mit dem Messer zwischen die erschrockenen Augen und schlucke seinen Schrei hinunter.
Nach dem Kindergarten fahre ich zum Arzt. Ich bin froh, dass ich mich auf den Weg konzentrieren kann, dass ich im Wartezimmer nicht Platz nehmen muss, weil ich sofort drankomme. Ich mag den Arzt, er hat Charme, ist immer professionell und trotzdem nicht unnahbar. Er fragt mich wie’s mir geht, ob’s irgendwelche Probleme gibt. Gynäkologische meint er – wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen. Ich interpretiere in seine Frage einen Unterton hinein, der wahrscheinlich gar nicht da, aber trotzdem vorwurfsvoll ist. Weil wir beide wissen, dass ich mit meiner Vorgeschichte nicht zu denen gehöre, die Routineuntersuchungen einfach spritzen sollten. „Nein, keine Probleme“, antworte ich leise. „Ein bisschen schlecht drauf bin ich im Moment, aber das wird sich wieder legen.“Er runzelt die Stirn und fragt mich, ob ich’s im Griff habe. „Ja“, sage ich. „Denke schon.“
Die Untersuchung ist unangenehm wie immer, ich bin froh, dass ich sie mir einmal erspart habe in den letzten zwei Jahren. Ich zieh mir Höschen und Hose wieder an und zieh mir Oberteil und BH aus, stelle mich vor den Arzt und er beginnt, meine Brust abzutasten. Er macht das schnell, mit gewohnten Bewegungen, hat jeden Handgriff und jede Fingerkrümmung schon 1000-fach geübt. Er bleibt an einer Stelle neben der Brustwarze hängen und tastet genauer. Er schaut mir in die Augen und ich sage: „Ja, den spüre ich schon länger.“In diesem Moment wird mir klar, wie absurd die Situation gerade ist. Ich stelle mir innerlich die Fragen, die er mir aus Höflichkeit nicht stellt.
Was soll das heißen, den spüre ich schon länger? Und was hab ich gedacht, dass passieren wird? Dass er von selbst wieder weggeht? „Wir schallen diese Seite schnell“, sagt er ruhig und ich lege mich auf die Liege. „Ich überweise Sie an einen Kollegen zur Mammographie, dann wissen wir mehr“, sagt er. (...) Ich ziehe mich an und stehe unschlüssig vor ihm, bereit zu gehen, nicht sicher, ob ich schon gehen soll oder ob er mich noch einmal bitten wird, mich hinzusetzen. „Ich rufe Sie an, sobald ich die Befunde vor mir habe. Bleiben Sie ruhig, es bringt nichts, sich jetzt schon Sorgen zu machen. Auf Wiedersehen, wir hören uns“, sagt er (...). Im Vorbeigehen steckt mir die Sprechstundenhilfe zwei Zettel zu. „Alles Gute“, sagt sie, und mir fällt wieder ein, dass sie Frau Glück heißt. Ich fühle mich ein bisschen verarscht, nehme es ihr aber nicht übel.
Hinweis: Es handelt sich hier um den gekürzten Anfang des Siegertextes. Gesamttext unter derStandard.at/Kultur
Infos: Eine elfköpfige Vorjury wählte aus 600 Einsendungen zum WortlautLiteraturpreis 20 Texte aus und leitete sie an die Hauptjury weiter. Die Jury – Milena Michiko Flašar (Autorin), Arno Geiger (Autor), Nicole Seifert (Literaturwissenschafterin), Luca Manuel Kieser (Gewinner Wortlaut 2021) und Scheibsta (Storytelling und FreestyleRap) – kürte daraus den Siegertext. fm4.orf.at/tags/wortlaut