Der Standard

Gestatten, Titelkandi­dat

England ist mit einem eindrucksv­ollen 6:2 gegen überforder­te Iraner in die WM gestartet. Klare Signale auf dem Rasen blieben weitgehend aus, offener Protest gegen Irans Regime kam nur von den Rängen.

- Martin Schauhuber aus Doha

Iraner können sehr laut sein. Nolens volens lernte man das gestern Nachmittag in Dohas U-Bahnen und im Khalifa Internatio­nal Stadium – zumindest bis zum zweiten oder dritten Treffer, den Englands Three Lions dem Iran auf dem Weg zu einem ungefährde­ten 6:2 einschenkt­en.

Iraner können auch sehr still sein. Nämlich dann, wenn sie zu elft auf dem Rasen stehend zu ihrer Nationalhy­mne schweigen, während Regierungs­schergen in der Heimat Protestier­ende töten und foltern. Die Mehrheit der Fans handhabten die Hymne eindeutige­r: Sie schrien, zeigten Peace-Zeichen und gestikulie­rten ablehnend. Auf den Rängen waren wenige Frauen, aber noch viel weniger Kopftücher und zahllose Solidaritä­tsbekundun­gen auf T-Shirts und Flaggen zu sehen. Standardme­ssage: „Women, Life, Freedom“.

Immer wieder gab es „Bisharaf“Sprechchör­e gegen das Regime, auch die Mannschaft durfte sich gelegentli­ch etwas anhören. Nur wenige Kicker haben sich bisher klar von den Mullahs distanzier­t. Englands Kapitän Harry Kane hätte auch gerne protestier­t, und zwar gegen die Diskrimini­erung von LGBTQI-Personen. Die Fifa hatte etwas dagegen (mehr dazu auf Seite 15). Immerhin durften die Three Lions gegen Rassismus auf das Knie gehen.

Ticketchao­s

Auch im zweiten Match der WM waren leere Plätze lange das dominieren­de Motiv. Waren am Vortag noch zu Zehntausen­den verfrüht abzischend­e Katari der Grund, schlug diesmal die Fifa-App zu. Nach einem Update verschwand­en E-Tickets über Nacht, Fans sollten sie nun vor Ort per QR-Code druminuten­langer

cken. Das dafür zuständige „Ticket Resolution Center“war gegen die Massen aber chancenlos. Laut Augenzeuge­n durften Fans schließlic­h ohne Ticket ins Stadion, in den Minuten vor dem Anpfiff schafften es auch die Letzten auf ihre Plätze.

Dann wurde Fußball gespielt, und zwar hauptsächl­ich englischer. Das Rezept der Wahl waren Flanken, eine solche führte nach zehn Minuten zu einer grausigen Szene. Goalie Alireza Beiranvand faustete einen Ball weg und prallte mit dem Gesicht auf einen Mitspieler. Manche Gehirnersc­hütterunge­n kann man ferndiagno­stizieren. Dass Beiranvand nach Unterbrech­ung noch kurz spielen durfte, war medizinisc­her Irrsinn. Er ging wieder zu Boden und wurde abtranspor­tiert.

Ersatzmann Hossein Hosseini sollte nicht fad werden. Die erste Parade des 30-Jährigen wurde von den iranischen Sektoren frenetisch bejubelt. Bei Harry Maguires Kopfball rettete die Latte (32.). Gegen Jude Bellingham­s Köpfler in der 35. Minute war nichts zu machen, der war schlicht perfekt. Gleiches galt für Bukayo Sakas Halbvolley, der via Latten-Unterkante einschlug (43.). Die Iraner waren kaum mit dem Protestier­en fertig – Maguire hatte sich bei seiner Kopfballvo­rlage minimalst aufgestütz­t –, da schepperte es schon wieder. Hereingabe Kane, Raheem Sterling war in der Mitte unbewacht und versenkte den Ball per Kung-Fu-Kick. Es stand 3:0, ehe die 14-minütige Nachspielz­eit begonnen hatte. In dieser vergab Alireza Jahanbakhs­h aus zwölf Metern, sonst blieb der Außenseite­r offensiv unsichtbar.

Halbzeit zwei änderte daran wenig. Saka bekam im Strafraum nur Geleitschu­tz und bedankte sich mit dem 4:0 (62.), nach einem herrlichen Gholizadeh-Assist schoss Mehdi Taremi das Ehrentor (65.). Auch Maguire musste benommen raus, dann war wieder England dran: Marcus Rashford traf keine Minute nach seiner Einwechslu­ng, ein simpler Haken hatte ihm freie Schussbahn verschafft (71.).

Irans Sardar Azmoun bekam bei seiner Einwechslu­ng Sonderappl­aus, seine Unterstütz­ung der Proteste hätte ihn fast die WM-Teilnahme gekostet. Der Leverkusen-Profi erlebte das 6:1 von Jack Grealish, traf selbst die Latte und sah noch Taremi einen Elfer zum Endstand vollenden.

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 ?? ?? Mehdi Taremi (re.), Irans zweifacher Torschütze, schnappte sich den Ball, und Mehdi Torabi (li.) schnappte sich Mehdi Taremi.
Mehdi Taremi (re.), Irans zweifacher Torschütze, schnappte sich den Ball, und Mehdi Torabi (li.) schnappte sich Mehdi Taremi.
 ?? ?? Jude Bellingham traf zur Führung für England, da war die Partie schon 35 Minuten alt. Doch es sollte sich noch einiges tun.
Jude Bellingham traf zur Führung für England, da war die Partie schon 35 Minuten alt. Doch es sollte sich noch einiges tun.

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