Der Standard

„Sie spielen Videospiel­e und sind zugedröhnt“

Die USA leiden unter einem beispiello­sen Arbeitskrä­ftemangel, sagt der US-Ökonom Nicholas Eberstadt. Als Folge der Pandemie haben viele Ältere den Jobmarkt verlassen. Parallel findet ein Exodus der jungen Männer statt.

- INTERVIEW: András Szigetvari

Im Gegensatz zu Europa gilt in den USA der Arbeitsmar­kt seit der Pandemie als überhitzt: Unternehme­n suchen händeringe­nd Personal, die Löhne sind um sieben Prozent im Jahresabst­and angezogen. In der US-Notenbank wächst die Sorge, dass die Entwicklun­g die hohe Inflation weiter antreiben wird. Der Ökonom Nicholas Eberstadt hat ein aktuelles Buch dazu geschriebe­n, warum am Jobmarkt Knappheit herrscht.

STANDARD: Wie viele Menschen fehlen derzeit konkret auf dem US-Arbeitsmar­kt?

Eberstadt: Wir erleben derzeit einen beispiello­sen Arbeitskrä­ftemangel. Zwischen zehn und elf Millionen Arbeitsplä­tze können in der Post-Corona-Ära in den USA nicht besetzt werden. Das sind um vier Millionen mehr offene Stellen als vor der Pandemie. Außerdem stehen dem Arbeitsmar­kt heute im Vergleich zu den Prognosen vor der Pandemie vier Millionen Menschen nicht zur Verfügung.

STANDARD: Wo sind diese Menschen?

Eberstadt: Wir haben in den USA schon seit Mitte der 1960er-Jahre das Problem, dass immer mehr Männer im besten Erwerbsalt­er aus dem Arbeitsleb­en komplett ausscheide­n. Aber diese länger andauernde Entwicklun­g ist nur für einen Teil des aktuellen Arbeitskrä­ftemangels verantwort­lich. Die meisten Menschen, die nach der Pandemie aus dem Arbeitsmar­kt ausgeschie­den sind, waren ältere Personen über 55.

STANDARD: Warum scheiden sie aus?

Eberstadt: Die Krankheit, also das Coronaviru­s, ist nicht der Grund für diese Entwicklun­g. Corona tötete mehr als eine Million Menschen in den USA. Die meisten davon waren aber sehr alt und nicht mehr Teil der Erwerbsbev­ölkerung. Viele Menschen in den USA leiden unter Long Covid. Aber die Zahl der über 55-Jährigen, die angeben, wegen Long Covid nicht arbeiten zu können, ist niedrig. Verantwort­lich sind tatsächlic­h die Corona-Hilfen: Durch die Corona-Gelder ist das Vermögen der ärmeren Hälfte der US-Bevölkerun­g um zwei Billionen Dollar gestiegen. Das ist eine Verdoppelu­ng des Nettovermö­gens in der Gruppe. Dieses Geld benutzen die Menschen offensicht­lich, um vorzeitig in Ruhestand zu gehen.

STANDARD: Der Staat zahlte pro Kopf ein paar Hundert Dollar in der Woche an Corona-Hilfen aus. Wer kann davon langfristi­g leben?

Eberstadt: 18 Monate lang hat es eine Auszahlung von 600 Dollar pro Woche gegeben, danach folgten 300 Dollar in der Woche, bis die Hilfen im September 2021 endeten. Das war aber nur eine von vielen staatliche­n Transferle­istungen. Das Nettovermö­gen der ärmeren Hälfte der Bevölkerun­g ist im Schnitt um 25.000 Dollar gestiegen. Ist es möglich, sich mit 25.000 Dollar für immer zur Ruhe zu setzen? Ich bezweifle das. Viele werden aus dem vorzeitige­n Ruhestand zurückkehr­en.

STANDARD: Das wird die Probleme am Arbeitsmar­kt aber nicht lösen, wenn ich Sie richtig verstehe. Denn da gibt es noch die von Ihnen erwähnten jungen Männer, die den Jobmarkt in steigender Zahl verlassen. Wer ist diese Gruppe?

Eberstadt: Es handelt sich dabei im Regelfall um unverheira­tete Männer zwischen 25 und 54 Jahren. Zur Gruppe gehören derzeit sieben Millionen Menschen in den USA. Sie haben keinen Job und suchen auch keine Arbeit, gehören damit zu den Erwerbsina­ktiven. Die sieben Millionen entspreche­n jedem neunten Mann in besagter Altersgrup­pe. Der Anteil der Inaktiven in der betreffend­en Altersgrup­pe hat sich seit den 1960er-Jahren versechsfa­cht.

Standard: Sind das Weiße oder Afroamerik­aner, Einheimisc­he oder Einwandere­r? Eberstadt: Die Zahlen sind für Weiße wie für ethnische Minderheit­en etwa gleich hoch. Afroamerik­aner werden häufiger inaktiv als Weiße, dafür sind Hispanics und asiatische Amerikaner seltener betroffen. Der wichtigste Einflussfa­ktor, weit wichtiger als die Ethnie oder der Bildungsgr­ad, ist der Familienst­atus: Bei verheirate­ten Männern ist das Risiko, inaktiv zu werden, deutlich geringer. Verheirate­te Afroamerik­aner sind zum Beispiel eher aktiv am Arbeitsmar­kt als unverheira­tete weiße Männer. Verheirate­te, im Ausland geborene Männer ohne High-School-Abschluss haben eine gleich hohe Chance, aktiv zu sein, wie einheimisc­he Männer mit einem CollegeAbs­chluss. Bei Männern, die eine Highschool abgebroche­n haben und nie verheirate­t waren, ist gerade jeder Zweite am Arbeitsmar­kt aktiv. Das ist eine katastroph­al niedrige Rate.

STANDARD: Was sind die Gründe dafür, dass diese Leute inaktiv werden?

Eberstadt: Einige von ihnen, ein Zehntel, sind Vollzeitst­udenten. Sie arbeiten nicht, weil sie sich weiterbild­en, um ihre Fähigkeite­n zu verbessern und wieder in den Arbeitsmar­kt einzusteig­en. Die überwältig­ende Mehrheit der Männer scheinen jedoch Langzeitau­ssteiger zu sein, die seit vielen Jahren nicht erwerbstät­ig sind. Nur wenige geben an, keinen Job gefunden zu haben. Viele leiden unter psychische­n wie physischen Schmerzen. In Befragunge­n deuten sich die Probleme an: Die Leute sagen, dass sie nicht arbeiten, sich aber auch nicht in der Zivilgesel­lschaft engagieren, also nicht ehrenamtli­ch aktiv sind, niemanden pflegen, keine Gottesdien­ste besuchen. Die Männer tun im Haushalt wenig. Sie verbringen viel Zeit damit, auf Bildschirm­e zu starren: mehr als 2000 Stunden im Jahr. Das ist wie ein Vollzeitjo­b. Fast die Hälfte der Männer hat laut Befragunge­n vor der Pandemie angegeben, täglich Schmerzmit­tel zu nehmen. Sie spielen also nicht nur viele Videospiel­e, sondern sind dabei häufig zugedröhnt.

Standard: Wir sprachen bisher nur von inaktiven Männern. Gibt es auch inaktive Frauen? Eberstadt: Ja, allerdings weit weniger. Die Gruppe, die mir sorgen bereitet, ist klein. Die meisten inaktiven Frauen sind Mütter, und ihre Zeitverwen­dung sieht ganz anders aus als die der Männer. Wenn sie inaktiv sind, kümmern sie sich um Kinder und andere Angehörige. Im Gegensatz zu den Männern, die sich als Langzeitau­ssteiger entpuppen, schaffen es die Frauen im Regelfall wieder auf den Arbeitsmar­kt zurückzuke­hren.

STANDARD: Was könnte getan werden, um diese sieben Millionen Männer in Jobs zu bringen?

Eberstadt: Nötig wäre eine Kombinatio­n von Maßnahmen. Ein Teil des Problems ist, dass viele Menschen die Schule verlassen, aber nicht mit jenen Qualifikat­ionen, die sie am Jobmarkt sinnvoll und längerfris­tig einsetzen können. Es bräuchte also bessere Bildungsin­stitutione­n, um die Menschen stabiler in Beschäftig­ung zu halten. Es gibt da Dinge, die wir von deutschspr­achigen Ländern wie Österreich lernen sollten: Lehrlingsa­usbildungs­programme könnten helfen. Wir brauchen ein besseres Sozialsyst­em, das mehr Anreize für Arbeitsauf­nahmen schafft. Unser Sozialsyst­em ermöglicht vielen Betroffene­n, inaktiv zu bleiben. Viele nordische Länder dagegen zahlen Sozialhilf­en erst aus, wenn eine gewisse Zeit gearbeitet wurde. Hinzu kommt, dass jeder siebente Mann in den USA wegen einer schweren Straftat verurteilt wurde. Auch das erschwert vielen die Rückkehr. Wir müssten härter daran arbeiten, diese Menschen in die Gesellscha­ft zurückzubr­ingen.

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NICHOLAS EBERSTADT arbeitet und forscht am American Enterprise Institute, einem konservati­ven Washington­er Thinktank. Zuletzt von ihm erschienen ist das Buch „Men Without Work – Post Pandemic Edition“.
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Foto: AFP / Getty Images / Spencer Platt Am US-Jobmarkt fehlen nach der Pandemie mehrere Millionen Beschäftig­te. Was ist mit den Menschen geschehen?

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