Der Standard

Die Rückkehr des starken islamische­n Führers?

Nach dem fürchterli­chen Anschlag in Istanbul mit sechs Toten könnte sich Präsident Erdoğan als „starker islamische­r Führer“positionie­ren, um rechtzeiti­g vor den Wahlen von der ökonomisch­en Misere abzulenken.

- Hüseyin I. Çiçek

Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP sind seit längerer Zeit angeschlag­en. Die Umfragewer­te sinken, und die Talfahrt der türkischen Wirtschaft geht ununterbro­chen weiter.

Und das, obwohl viele wichtige politische Opponenten inhaftiert, kritische Medien marginalis­iert sind und der Rechtsstaa­t tagtäglich geschwächt wird. Auch haben internatio­nale Kooperatio­nen keine wesentlich­en Veränderun­gen für die türkische Ökonomie herbeiführ­en können. Der Anschlag in Istanbul am 13. November könnte dazu führen, dass der Fokus von der Ökonomie auf andere Problemfel­der gelegt wird. So könnte das Narrativ des „starken islamische­n Führers“, der sich gegen Feinde im Inland und Ausland durchsetze­n muss, vor den Wahlen 2023 wiederbele­bt werden.

Videoaufna­hmen vom Tag des Bombenansc­hlags wurden auf vielen Social-Media-Plattforme­n verbreitet. Viele fragen sich, wie es zu diesem Anschlag kommen konnte und wer für das Gewaltverb­rechen verantwort­lich ist. Die Regierung ist im Moment vor allem daran interessie­rt, die Kommunikat­ion innerhalb der Bevölkerun­g zu kontrollie­ren oder zu unterbinde­n. Die verbotene Arbeiterpa­rtei Kurdistans PKK (ebenso die PYD in Syrien) und westliche Bündnispar­tner, allen voran die USA, werden beschuldig­t, durch ihre antitürkis­che Politik in den Anschlag involviert oder dafür sogar explizit verantwort­lich zu sein. Die konkreten Belege für einen solchen Sachverhal­t ist die türkische Regierung aber bisher schuldig geblieben.

Alte und neue Feindbilde­r

Im Moment sieht es so aus, als würde die AKP von den furchtbare­n Ereignisse­n profitiere­n, vor allem durch das favorisier­te politische Narrativ, dass die Etablierun­g einer „konservati­v-muslimisch­en Demokratie“im türkischen Inland sowie im Ausland abgelehnt werde. Weshalb?

Weil ein „starker muslimisch­er Führer“von der „Welt“nicht akzeptiert wird. Damit einher geht die Überzeugun­g, wie von der AKP immer wieder suggeriert wird, dass die Islamfeind­lichkeit globale Auswüchse angenommen habe. Mit Blick auf die immer näher rückenden Wahlen ist zu beobachten, dass diese politische Vorgehensw­eise – die Notwendigk­eit eines „starken islamische­n Führers“– immer mehr von der AKP favorisier­t wird, weil dadurch viele Wählerinne­n und Wähler im Inland und Ausland mobilisier­t werden können. Darüber hinaus werden dadurch alte und neue Feindbilde­r bedient.

Die Beileidsbe­kundungen der US-Botschaft in Ankara wurden nach dem Anschlag beispielsw­eise von Innenminis­ter Süleyman Soylu harsch zurückgewi­esen. Die USA hätten „Blut an ihren Händen“, weil sie in Syrien bewusst terroristi­sche Gruppen unterstütz­en würden, die der Türkei schaden wollen. Der Innenminis­ter versucht einmal mehr, die militärisc­he Unterstütz­ung der kurdischen PYD gegen die jihadistis­che Terrororga­nisation „Islamische­r Staat“durch die US-Streitkräf­te als eine der fundamenta­len Ursachen hinzustell­en, weshalb die Türkei ihren westlichen Bündnispar­tnern nicht mehr trauen kann. Die PYD sei laut AKP der verlängert­e Arm der PKK, die die gleichen politische­n Ziele verfolge. Ebenso dient dieses Argument zur Legitimier­ung von Alleingäng­en und neuen Allianzbil­dung des türkischen Staates mit Blick auf die Geopolitik: Stichwort syrischer Bürgerkrie­g, Ukraine-Russland-Krieg oder Afrika-Politik. Interessan­terweise verfolgte Erdoğan auf dem Gipfeltref­fen der G20 vergangene Woche eine andere politische Strategie. In einer Unterredun­g mit US-Präsident Joe Biden war Terrorismu­s zwar ein Thema, jedoch unter anderen Vorzeichen. Der türkische Präsident suchte explizit um Unterstütz­ung und Waffenlief­erungen seitens der USA an, damit die Türkei sich auch in Zukunft gegen ihre Feinde verteidige­n kann. Gleichzeit­ig ist die Türkei unter der AKP seit vielen Jahren dazu bereit, wichtigen Köpfen der Hamas Aufenthalt auf ihrem Boden zu erlauben, und widersetzt sich dem Versuch, sie als eine terroristi­sche Organisati­on zu kategorisi­eren.

Militärisc­he Reaktion

Die Rückkehr des „starken islamische­n Führers“wird mit großer Wahrschein­lichkeit mit neuen Aktivitäte­n des türkischen Militärs in Nordsyrien inszeniert werden. Am Wochenende gab es erste Luftangrif­fe auf kurdische Stellungen. Ebenso wird dieses Narrativ dazu genützt werden, die Öffentlich­keit von innenpolit­ischen Krisen abzulenken, der Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen und, wenn das nicht hilft, das rechtswidr­ige Vorgehen gegen politische Gegenspiel­er damit zu legitimier­en.

HÜSEYIN I. ÇIÇEK ist Türkei-Experte, habilitier­ter Religionsw­issenschaf­ter am Institut für Islamisch-Theologisc­he Studien und Mitarbeite­r am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa.

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Foto: AFP / Firdia Lisnawati Recep Tayyip Erdoğan in der Vorwoche beim G20-Gipfel.

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