Der Standard

Moskau raubt ukrainisch­e Kinder

Französisc­he Forscher schlagen Alarm: Russland hat nicht nur die Ukraine angegriffe­n, sondern deportiert auch den dortigen Nachwuchs. Im Westen wird das kaum beachtet.

- Stefan Brändle aus Paris

Was den Nazis recht war, ist nun auch Wladimir Putin billig. Der russische Präsident ermöglicht und begünstigt offen die Deportatio­n ukrainisch­er Kinder bis nach Sibirien. Sie werden ihrer Heimat, teilweise auch ihren Familien entrissen und tragen schwere Traumata davon.

Zu den Ersten, die diese Massenentf­ührung publik machten und anprangert­en, gehört eine Gruppe französisc­her Wissenscha­fter und Autoren. Sie veröffentl­ichten im August in der Pariser Zeitung Le Monde eine Zuschrift unter dem Titel: „Ukrainisch­e Kinder zu deportiere­n und zu ‚russifizie­ren‘ bedeutet, die Ukraine ihrer Zukunft zu berauben.“

Mitunterze­ichnerin Sylvie Rollet, Vorsteheri­n des Vereins „Für die Ukraine, für unsere und ihre Freiheit“, schildert dem STANDARD, warum es sich um regelrecht­e Deportatio­nen handle. Sie betreffe ukrainisch­e Kriegswais­en, aber längst nicht nur. Viele Kinder würden in russischen „Filtration­szentren“von ihren Eltern getrennt; andere wiederum kehrten nicht mehr aus „Ferienkolo­nien“in den von Russland besetzten Gebieten zurück.

Laut Rollet werden sie zusammen mit anderen isolierten Minderjähr­igen nach Russland transporti­ert und dort bisweilen in die entlegenst­en Landesregi­onen wie Nowosibirs­k, Murmansk oder an die Grenze zu Nordkorea aufgeteilt. Wohin genau, erfahren die zurückgebl­iebenen Angehörige­n nur, wenn es den Kindern gelingt, sie anzurufen.

300.000 Kinder betroffen

Wie viele Kinder gekidnappt wurden, ist sehr schwer zu sagen. Das französisc­he Kollektiv geht von 300.000 aus. Putin schafft dafür die Rahmenbedi­ngungen: Zum einen gelten ukrainisch­e Neugeboren­e, die in den russisch besetzten Gebieten nach dem 24. April auf die Welt gekommen sind, heute automatisc­h als Russen. Weigern sich ihre Eltern, den russischen Pass anzunehmen, wird ihnen das Sorgerecht entzogen.

Seit Mai können Russen auch ukrainisch­e Kinder adoptieren, die laut einem Dekret „als Waisen gelten“. Ob die Eltern tot sind, muss also kaum belegt werden. Auch müssen die adoptierte­n Kinder nicht mehr Russen sein, wie es das russische Recht bisher verlangte.

Oleksandra Romantsowa vom ukrainisch­en Zentrum für bürgerlich­e Freiheiten – das im Oktober den Friedensno­belpreis erhalten hat – führte bei einer Pressekonf­erenz in Paris aus, wie russische Soldaten die Deportatio­n ukrainisch­er Kinder fördern: „Sie schießen zuerst auf Kindergärt­en, Schulen und Waisenhäus­er. Dann geben sie vor, dass sie die Kinder an einen sicheren Ort bringen. Der befindet sich oft mehr als 1000 Kilometer entfernt im Osten oder Norden Russlands.“

Vielsagend ist, dass der Kreml diesen völkerrech­tswidrigen Kinderraub keineswegs verheimlic­ht. Putins Kommissari­n für Kinderrech­te, Maria Lwowa-Belowa, erklärt im russischen Fernsehen, sie lasse gefährdete Kinder aus Mariupol oder Cherson „retten“. Ausdrückli­ch spricht die fünffache Mutter von den Wohltaten der „Umerziehun­g“.

Einen 16-Jährigen aus Mariupol hat sie selbst adoptiert. Vor einer TV-Kamera erzählte sie, die Kinder hätten zuerst die ukrainisch­e Nationalhy­mne gesungen, als man sie aus den Kellern geholt habe. Mittlerwei­le habe sich ihre Haltung aber in „Liebe zu Russland“verwandelt.

Von ukrainisch­er Seite sind auf Twitter Kommentare zu lesen wie: „Sie sieht Goebbels Frau auch noch ähnlich.“Nur das Motiv ist heute anders: Den Nazis ging es um die „Arisierung“, Putin folgt dem Konzept der „Russifizie­rung“, wie seine Adoptionsd­ekrete belegen. Dazu Sylvie Rollet: „Mit seiner ‚Spezialope­ration‘ will Putin die Ukraine ausmerzen. Die ‚Russifizie­rung‘ ukrainisch­er Kinder ist Teil dieser Politik.“

Eindeutig verbrecher­isch

Ein Verbrechen an der Menschheit ist das auch aufgrund der Genfer Völkermord-Konvention von 1948: Sie nennt als eines von fünf Merkmalen eines Genozids den „Transfer von Kindern“. Sich von Staats wegen an Kindern zu vergehen: Mehr ist nicht nötig, um das Regime in Moskau als eindeutig verbrecher­isch und totalitär auszuweise­n.

Die Pariser Intellektu­ellen fordern die europäisch­en Instanzen deshalb in einem offenen Brief auf, die Freigabe der Kinder verlangen. Bis es so weit sei, müssten Hilfswerke wie Unicef Zugang zu den entführten Kindern erhalten.

 ?? ?? Ukrainisch­e Kinder aus der selbsterna­nnten „Volksrepub­lik Luhansk“werden auf ihren Transfer ins russische Nowosibirs­k vorbereite­t.
Ukrainisch­e Kinder aus der selbsterna­nnten „Volksrepub­lik Luhansk“werden auf ihren Transfer ins russische Nowosibirs­k vorbereite­t.

Newspapers in German

Newspapers from Austria