Moskau raubt ukrainische Kinder
Französische Forscher schlagen Alarm: Russland hat nicht nur die Ukraine angegriffen, sondern deportiert auch den dortigen Nachwuchs. Im Westen wird das kaum beachtet.
Was den Nazis recht war, ist nun auch Wladimir Putin billig. Der russische Präsident ermöglicht und begünstigt offen die Deportation ukrainischer Kinder bis nach Sibirien. Sie werden ihrer Heimat, teilweise auch ihren Familien entrissen und tragen schwere Traumata davon.
Zu den Ersten, die diese Massenentführung publik machten und anprangerten, gehört eine Gruppe französischer Wissenschafter und Autoren. Sie veröffentlichten im August in der Pariser Zeitung Le Monde eine Zuschrift unter dem Titel: „Ukrainische Kinder zu deportieren und zu ‚russifizieren‘ bedeutet, die Ukraine ihrer Zukunft zu berauben.“
Mitunterzeichnerin Sylvie Rollet, Vorsteherin des Vereins „Für die Ukraine, für unsere und ihre Freiheit“, schildert dem STANDARD, warum es sich um regelrechte Deportationen handle. Sie betreffe ukrainische Kriegswaisen, aber längst nicht nur. Viele Kinder würden in russischen „Filtrationszentren“von ihren Eltern getrennt; andere wiederum kehrten nicht mehr aus „Ferienkolonien“in den von Russland besetzten Gebieten zurück.
Laut Rollet werden sie zusammen mit anderen isolierten Minderjährigen nach Russland transportiert und dort bisweilen in die entlegensten Landesregionen wie Nowosibirsk, Murmansk oder an die Grenze zu Nordkorea aufgeteilt. Wohin genau, erfahren die zurückgebliebenen Angehörigen nur, wenn es den Kindern gelingt, sie anzurufen.
300.000 Kinder betroffen
Wie viele Kinder gekidnappt wurden, ist sehr schwer zu sagen. Das französische Kollektiv geht von 300.000 aus. Putin schafft dafür die Rahmenbedingungen: Zum einen gelten ukrainische Neugeborene, die in den russisch besetzten Gebieten nach dem 24. April auf die Welt gekommen sind, heute automatisch als Russen. Weigern sich ihre Eltern, den russischen Pass anzunehmen, wird ihnen das Sorgerecht entzogen.
Seit Mai können Russen auch ukrainische Kinder adoptieren, die laut einem Dekret „als Waisen gelten“. Ob die Eltern tot sind, muss also kaum belegt werden. Auch müssen die adoptierten Kinder nicht mehr Russen sein, wie es das russische Recht bisher verlangte.
Oleksandra Romantsowa vom ukrainischen Zentrum für bürgerliche Freiheiten – das im Oktober den Friedensnobelpreis erhalten hat – führte bei einer Pressekonferenz in Paris aus, wie russische Soldaten die Deportation ukrainischer Kinder fördern: „Sie schießen zuerst auf Kindergärten, Schulen und Waisenhäuser. Dann geben sie vor, dass sie die Kinder an einen sicheren Ort bringen. Der befindet sich oft mehr als 1000 Kilometer entfernt im Osten oder Norden Russlands.“
Vielsagend ist, dass der Kreml diesen völkerrechtswidrigen Kinderraub keineswegs verheimlicht. Putins Kommissarin für Kinderrechte, Maria Lwowa-Belowa, erklärt im russischen Fernsehen, sie lasse gefährdete Kinder aus Mariupol oder Cherson „retten“. Ausdrücklich spricht die fünffache Mutter von den Wohltaten der „Umerziehung“.
Einen 16-Jährigen aus Mariupol hat sie selbst adoptiert. Vor einer TV-Kamera erzählte sie, die Kinder hätten zuerst die ukrainische Nationalhymne gesungen, als man sie aus den Kellern geholt habe. Mittlerweile habe sich ihre Haltung aber in „Liebe zu Russland“verwandelt.
Von ukrainischer Seite sind auf Twitter Kommentare zu lesen wie: „Sie sieht Goebbels Frau auch noch ähnlich.“Nur das Motiv ist heute anders: Den Nazis ging es um die „Arisierung“, Putin folgt dem Konzept der „Russifizierung“, wie seine Adoptionsdekrete belegen. Dazu Sylvie Rollet: „Mit seiner ‚Spezialoperation‘ will Putin die Ukraine ausmerzen. Die ‚Russifizierung‘ ukrainischer Kinder ist Teil dieser Politik.“
Eindeutig verbrecherisch
Ein Verbrechen an der Menschheit ist das auch aufgrund der Genfer Völkermord-Konvention von 1948: Sie nennt als eines von fünf Merkmalen eines Genozids den „Transfer von Kindern“. Sich von Staats wegen an Kindern zu vergehen: Mehr ist nicht nötig, um das Regime in Moskau als eindeutig verbrecherisch und totalitär auszuweisen.
Die Pariser Intellektuellen fordern die europäischen Instanzen deshalb in einem offenen Brief auf, die Freigabe der Kinder verlangen. Bis es so weit sei, müssten Hilfswerke wie Unicef Zugang zu den entführten Kindern erhalten.