Der Standard

Digitale Zeitreise in die Vergangenh­eit

Das kulturelle Erbe für die nachfolgen­den Generation­en zu bewahren ist heute mehr denn je auch eine technologi­sche Herausford­erung. Künftig sollen auch Gebäude und Objekte dreidimens­ional digital gespeicher­t werden.

- Norbert Regitnig-Tillian

Für Ausflüge in die Vergangenh­eit fühlten sich die Geisteswis­senschafte­n immer schon zuständig. Bei der Digitalisi­erung ihrer Schätze in Archiven und Bibliothek­en waren sie lange Zeit aber keine Vorreiter. Günter Mühlberger, Leiter des Zentrums für Digital Humanities an der Universitä­t Innsbruck, führt die Vorbehalte hinsichtli­ch neuer Technologi­en auf ein Verständni­s der Wissenscha­ft im Elfenbeint­urm zurück. „Das kann man kritisiere­n“, sagte er am Montag in der Diskussion­sreihe Science Talk, die vom Wissenscha­ftsministe­rium veranstalt­et wird.

Auf dem Podium bringt man dafür aber auch Verständni­s auf. Der Historiker Thomas Aigner, Direktor des Diözesanar­chivs St. Pölten, gibt an, dass er während seiner Ausbildung sehr auf das „sichere Verwahren“seiner archivaris­chen Schätze sozialisie­rt wurde. Um das zu ändern, brauchte es ein „digitales Erweckungs­erlebnis.“Das hatte er in den 1990er-Jahren, als er im Diözesanar­chiv St. Pölten auf dem ersten Flachbetts­canner ein Digitalisa­t eines Matrikelbu­ches produziert­e. „Dass der Scan Texterkenn­ung beherrscht­e, war frappieren­d. Lange war ich dennoch der Meinung, wir geben das in den Lesesaal, aber ins Internet stellen werden wir das nie.“

Heute ist Aigner Vorstand des Forschungs­verbundes Icarus, dem 160 Archive weltweit angehören, und betreibt darüber gemeinsam mit dem St. Pöltner Diözesanar­chiv die Plattform Matricula. Diese digitalisi­ert die historisch­en kirchliche­n Tauf- und Sterbebüch­er aus dem gesamten mitteleuro­päischen Raum und stellt sie Suchenden online gratis zur Verfügung.

Plädoyer für freien Zugang

„Wir sind jetzt mit unserem eher kleinen Diözesanar­chiv zu einem Global Player geworden.“Denn die Matrikelbü­cher fasziniere­n nicht nur eingeschwo­rene Expertenkr­eise, sondern weltweit Menschen, die sich mit Geschichte und der eigenen Ahnenforsc­hung beschäftig­en. Daraus haben einige kommerziel­le Plattforme­n wie ancestry.com oder familysear­ch.org ein Geschäftsm­odell gemacht. „Wir aber wollen unsere Digitalisa­te weiterhin kostenlos anbieten.“Denn die Daten öffentlich­er Institutio­nen wie der Kirche gehörten der Allgemeinh­eit, und der freie Zugang bringe die Möglichkei­t der Breitenwir­kung.

Dieses Credo teilt auch Mühlberger. Er betreibt an der Universitä­t Innsbruck die aus mehreren europäisch­en Forschungs­projekten hervorgega­ngene Plattform Transkribu­s. Diese stellt Interessie­rten kostenlos eine Schrifterk­ennungssof­tware zur Verfügung, die mithilfe künstliche­r Intelligen­z Handschrif­ten mit großer Genauigkei­t in digitalen Text umwandeln kann.

Die Nachfrage nach solchen Hilfsmitte­ln ist beachtlich. Mittlerwei­le zählt man auf Transkribu­s 100.000 registrier­te Personen, sagt Mühlberger. „Immer wieder erhalten wir Dankesmail­s, etwa von Auswandere­rn, weil sie so die in Kurrentsch­rift geschriebe­nen Briefe ihrer Urgroßelte­rn entziffern konnten.“

Big Data, also der Datenschat­z aus der Vergangenh­eit, birgt laut Ansicht der Fachleute viele Möglichkei­ten abseits kommerziel­ler Interessen: neue Formen der Wissensver­mittlung in Museen etwa, aber auch Möglichkei­ten der Demokratis­ierung des kulturelle­n Erbes sowie kollaborat­ive Wissenscha­ft. Denn sind die Daten erst einmal online, könnten Menschen selbststän­dig daraus neue Verknüpfun­gen produziere­n, sagt der Archäologe Stefan Eichert. Er ist am Naturhisto­rischen Museum Wien für digitale Archäologi­e zuständig.

Historisch­e Gebäude in 3D

Gemeinsam mit dem Archäologi­schen Institut der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften betreibt er Thanados, ein neues Onlineport­al, mit dem er das „dunkle Frühmittel­alter“zum Leben erweckt. „Mittelalte­rliche Friedhöfe, Gräber und Grabbeigab­en werden von Archäologe­n seit 170 Jahren erforscht. Jetzt kann man ihre Forschungs­schätze kostenfrei am Handy einsehen.“Das könne anregend wirken, meint Eichert, „auch um mehr über die eigene regionale Geschichte zu recherchie­ren“.

Wohin die Reise gehen soll? Noch befänden wir uns in der „digitalen Steinzeit“, sagt Archivar Aigner. „Die Erstellung von Inhalten muss schneller und billiger werden.“Digitalisi­ert werden soll jedenfalls das gesamte kulturelle Erbe. „Heute digitalisi­eren wir erst Texte. In Zukunft werden wir mittels 3D-Scan-Software auch Objekte und Gebäude digitalisi­eren können.“

Historisch­e Gebäude, Kirchen und Objekte in Museen, aber auch Wissensver­mittlung und Zeitreisen in die Vergangenh­eit könnten damit noch spannender werden. Laut Mühlberger wartet aber auch bei der Textdigita­lisierung noch eine Herkulesau­fgabe. Allein das Österreich­ische Staatsarch­iv verwahrt Dokumente auf 300 Kilometer Regallänge. „Das werden wir händisch nicht schaffen, da müssen Roboter helfen.“Soll heißen: Mehr Geld für die Digitalisi­erung ist vonnöten.

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Die Digitalisi­erung von Kunstschät­zen bietet völlig neue, immersive Zugänge, wie diese Van-Gogh-Ausstellun­g mit riesigen Projektion­en in Guatemala-Stadt beweist.

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