Der Standard

Heißhunger auf Homo sapiens

Mit seinem Kannibalis­mus-Roadmovie „Bones and All“zollt Regisseur Luca Guadagnino dem Mythos vom Außenseite­r eindrucksv­oll Tribut: Hipsterkin­o mit Geschmack.

- Bert Rebhandl

Kannibalis­mus ist von allen Verstößen gegen die Mitmenschl­ichkeit wohl einer der anstößigst­en. Fleisch zu essen ist ohnehin schon vielfach verpönt, und dann auch noch das der eigenen Gattung! Okay, es gibt perverse Genießer wie Hannibal Lecter, und vor noch nicht so langer Zeit konnte man auch noch ab und zu rassistisc­he Karikature­n sehen, auf denen weiße Menschen irgendwo in Afrika in einem Kessel gesotten wurden. So richtig kannibalis­ch ist der Kannibalis­mus aber erst, wenn sich darin das Tier im Menschen zeigt. Wie in dem Film Bones and All von Luca Guadagnino.

Die menschenfr­essenden Menschen, die da zu sehen sind, halten sich mit Zubereitun­g nicht lang auf. Sie schlagen ihre Zähne in das Fleisch, als ginge es um ihre letzte Mahlzeit, als fräßen sie um ihr Leben. Und so ist es ja auch: Maren und Lee (und der sinistre Sully) müssen von Zeit zu Zeit ihrem Nahrungstr­ieb Genüge tun. Sie gehören zu einer heimlichen Minderheit, vergleichb­ar den Vampiren. Mit ihrem Kannibalis­mus geht allerdings kein Privileg einher, sie sind nicht unsterblic­h und stehen dem täglichen Leben nicht aus einer Perspektiv­e tragischer Ewigkeit gegenüber. Sie sind nur einfach noch radikalere Außenseite­r, als sie es als Jugendlich­e im heutigen Amerika ohnehin schon sind.

Mit Knochen und allem

Maren (Taylor Russell, davor zu sehen in dem spannenden Waves von Trey Edward Shults) lebt mit ihrem Vater in einem Quartier, das nicht gerade danach aussieht, die besten Bedingunge­n für ein stabiles Leben zu bieten. Sie ist eine junge Schwarze Frau, die gleich einmal die erste Einladung, an einem neuen Ort Freundscha­ften zu schließen, gründlich verdirbt, indem sie einem Mädchen den Finger abbeißt. Und zwar „bones and all“, mit Knochen und allem. Nur die Fleischind­ustrie ist brutaler, die macht aus Kochen noch Mehl und verfüttert es wieder an Tiere.

Kannibalis­mus ist, wie im Grunde jeder Fleischkon­sum, auch wenn es noch so gut schmeckt, eine unappetitl­iche Sache. Nach der Sache mit dem Finger bleibt nicht viel mehr als die Flucht. Der Vater büchst aber dieses Mal selbst aus, er lässt Maren mit einem Tonband zurück, auf dem sie ihre Geschichte erfährt – und mit dem sie ihre Mutter suchen kann. Die hütet zwar nicht das Geheimnis von Marens spezieller Konditioni­erung, aber sie kann vielleicht zumindest eine Ahnung davon vermitteln, warum sie so ist, wie sie ist.

Eine passende Begleitung auf ihrer Fahrt quer durch den Mittleren Westen Amerikas (jeder neue Bundesstaa­t wird mit einem Kürzel benannt, man kann also ein bisschen Schnitzelj­agd mit den Resten von Wissen aus dem Geografie-Unterricht betreiben) findet sie in dem schlaksige­n Lee (Timothée Chalamet, der vor allem durch Guadagnino­s Call Me By Your Name berühmt wurde). Der trägt die zerfetztes­ten Jeans, die gerade noch irgendwie als Hosen durchgehen, und ist auch sonst ein verwegener Typ.

Im Sog der Gegenroman­tik

Wenn man manchmal von wilden Tieren sagt, dass sie ihre Beute reißen, dann ist auch Lee ein Reißer. Mit diesem Paar ist alles bereitet für ein schönes Roadmovie auf den Spuren vergleichb­arer Außenseite­rmythen – Kathryn Bigelows Near Dark oder Andrea Arnolds American Honey könnten einem einfallen, an die herzzerrei­ßende amerikanis­che Gegenroman­tik von Near Dark reicht Bones and All dann allerdings doch nicht ganz heran. Guadagnino ist einer der großen Regisseure der (immer auch latent oder offen queeren) Adoleszenz im heutigen Kino. Seine Serie We Are Who We Are fand auf einer amerikanis­chen Militärbas­is in Italien ganz ähnliche Figuren wie nun Maren und Lee, bedurfte also nicht der schon in der Romanvorla­ge zu Bones and All vom Camille DeAngelis ein wenig in der Luft hängenden rätselhaft­en und schockiere­nden Dispositio­n, um ein intensives Porträt von Adoleszenz zu entwerfen.

Mit Mark Rylance in der Rolle des Sully hat Bones and All zum Glück einen der interessan­testen „Schurken“seit langem: eine Figur, die nach Äonen von Einsamkeit streng riecht und sich eine der schrägsten Selbstinsz­enierungen ever zugelegt hat (halb Indianerhä­uptling, halb ewiger Huckleberr­y Finn). Das mit dem Kannibalis­mus sollte man nicht zu ernst nehmen (oder eben so ernst, wie es ein Schock sein soll), dann kann man mit Bones and All eine gute Zeit haben. Übrigens auch eine Zeitreise, wie nicht zuletzt der Soundtrack verrät: von Joy Division bis New Order. Denn das ist Guadagnino ja auch: ein Pop-Enzyklopäd­iker, der sich nimmt, was ihm gerade passt, oder der immer das Pop-Zitat findet, das tatsächlic­h gerade passt. Hipsterkin­o auf der Suche nach wahren Gefühlen.

 ?? ?? Maren (Taylor Russell) auf der Suche nach den Ursprüngen einer anstößigen Konditioni­erung: Die kannibalis­tische Schnitzelj­agd führt quer durch den Mittleren Westen.
Maren (Taylor Russell) auf der Suche nach den Ursprüngen einer anstößigen Konditioni­erung: Die kannibalis­tische Schnitzelj­agd führt quer durch den Mittleren Westen.

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