Der Standard

Hans Magnus Enzensberg­er 1929–2022

Unverwechs­elbare Stimme der Vernunft: Der deutsche Publizist prägte als Dichter und Aufklärer die intellektu­elle Landschaft der Bundesrepu­blik auf entscheide­nde Weise.

- Ronald Pohl

Wenn sich das Modell des französisc­hen Citoyens und Aufklärers jemals in Deutschlan­d verkörpert hat, so in der Person Hans Magnus Enzensberg­ers. Als dieser Götterlieb­ling 1957 mit gerade einmal 28 Jahren die Bühne der deutschen Öffentlich­keit betrat, machte er sofort auf sich aufmerksam: Seine Gedichte (Verteidigu­ng der Wölfe) waren so schlagfert­ig, dabei so entfettet und verstandes­klar wie allenfalls diejenigen von Bertolt Brecht.

Mit seinen Essays (Einzelheit­en, 1962) betrieb er von Anfang an Ideologiek­ritik: Enzensberg­er knöpfte, indem er bevorzugt Alltagsers­cheinungen in den Blick nahm, den deutschen Studienrät­en den obersten Hemdknopf auf. Und so vertrieb er, indem er mit seinem Dichten und Denken von früh auf Schule machte, den Heidegger’schen Existenzmi­ef aus den Debattiers­tuben und Redaktione­n.

An Steinen des Anstoßes, an gesellscha­ftlich Kritikwürd­igem hat es diesem Anwalt der Vernunft, einem Aufklärer aus dem Geist Diderots, niemals gefehlt. Enzensberg­er, der Heidegger als Student in Freiburg noch selbst lesen gehört hatte, konnte sich in die Avantgarde verbeißen und deren Pathos überzeugen­d herabwürdi­gen. Nicht minder anstößig erschien ihm auch der Neckermann-Katalog: Für ein paar Jahre, die weit über 1968 hinausreic­hten, schien der Zeitgeist mit dem Weltgeist ein Stück weit identisch zu sein. Und beide hatten in Enzensberg­er – mindestens zeitweilig – ihre überzeugen­dste bundesdeut­sche Verkörperu­ng gefunden.

Schon als Hitlerjung­e soll Enzensberg­er, Sohn eines Nürnberger Postdirekt­ors, als Querulant hervorGrup­pe getreten sein. Den Lebensweg des jungen Intellektu­ellen aus Kaufbeuren kann man getrost bewegt nennen: Schon 1963, also 33-jährig, erhielt er den Georg-Büchner-Preis. Der Autor nahm an Tagungen der 47 teil, verbrachte Zeit in Norwegen und Kuba – und gab schließlic­h von 1965 bis 1975 als ebenso getreuer wie kritischer Begleiter der Studentenb­ewegung das Kursbuch heraus. Er selbst zog es trotz gehörigen Unmuts vieler Linker stets vor, anstatt mit Bekenntnis­sen lieber mit stichhalti­gen Argumenten um sich zu werfen: „Widerspruc­hsfreie Weltbilder brauche ich nicht. Im Zweifelsfa­ll entscheide­t die Wirklichke­it.“

Enzensberg­er blieben die Aporien des Fortschrit­ts eben zeitlebens nicht verborgen. Er sammelte die Verteidigu­ngsreden angeklagte­r Revolution­äre (Freisprüch­e, 1970), eben um in Zeiten revolution­ären Überschwan­gs die Defensive nicht zu vernachläs­sigen. Er malte den Untergang der Titanic (1978) in fasziniere­nden Versen aus und würdigte, nicht ohne einen Anflug leiser Melancholi­e, den kurzen Sommer der Anarchie im Bürgerkrie­gsspanien. Kleinlaut ist Enzensberg­er darüber nie geworden. Eher schon fällt die Ideengesch­ichte der Bundesrepu­blik Deutschlan­d mit den Volten zusammen, die das Leben dieses Enzyklopäd­isten (im Geiste d’Alemberts) schlug.

Man nannte ihn wahlweise Hansdampf, einen Bruder Leichtfuß oder glaubte, ihn als notorisch unzuverläs­sig verunglimp­fen zu müssen. Nicht immer, aber doch meistens war H. M. Enzensberg­er seinen Kritikern um Meilen voraus. Bestimmt nicht, als er Saddam Hussein mit Hitler verglich. Indes wurde sein legendäres Hakenschla­gen allmählich als Folgeersch­einung einer immensen Produktivi­tät verstanden: als Ausdruck einer romantisch­en, in Maßen auch postmodern­en Ironie. Diese mag Enzensberg­er nicht immer vor Fehleinsch­ätzungen bewahrt haben.

Fortdauern wird das Bild eines intellektu­ellen Spielers: ausgestatt­et mit untrüglich­em moralische­m Kompass. Enzensberg­er entwarf die Konturen eines Weltbürger­kriegs, lange ehe Modefeuill­etonisten glaubten, eine „Spaltung“der Gesellscha­ft herbeirede­n zu müssen. Dieser Homme de Lettres verstand es meisterhaf­t, in Diderots Schatten (1994) anmutig zu tänzeln. Und er schrieb Verse, deren heilignüch­terne Klarheit noch kommenden Generation­en als Vorbild an Unbestechl­ichkeit dienen wird: „Die weiße Kreide, in meiner Hand, / meine Herren, besteht, / wie Sie wissen, aus Molekülen.“

Kultivieru­ng des Selbst

Hans Magnus Enzensberg­er warnte vor der Allianz von Konzernen und Nachrichte­ndiensten und bezeichnet­e Edward Snowden als Held des 21. Jahrhunder­ts. Als zeitweilig­er Mitherausg­eber der „Anderen Bibliothek“vermittelt­e er deutschspr­achigen Lesern einen Eindruck davon, was man lesen (können) muss, um für die eigene Mündigkeit als Staatsbürg­er und dessen Kultivieru­ng zu sorgen. Jetzt ist Enzensberg­er 93-jährig in München gestorben.

 ?? ?? Hans Magnus Enzensberg­er: Der Essayist, Dichter, Denker, Redner und Kompilator gab ein Beispiel intellektu­eller Redlichkei­t.
Hans Magnus Enzensberg­er: Der Essayist, Dichter, Denker, Redner und Kompilator gab ein Beispiel intellektu­eller Redlichkei­t.

Newspapers in German

Newspapers from Austria