Der Standard

Schauen, nicht essen

Hendl werden in Kürbisse gestopft, Eiscreme wird frittiert oder Focaccia mit Gemüse als Monet-Imitat belegt. Auf Tiktok gilt: Je absurder oder aufwendige­r die Food-Videos sind, desto erfolgreic­her. Nachgekoch­t wird selten. Was also fasziniert uns an diese

- Kevin Recher

Das ganze Huhn muss in den ausgehöhlt­en Kürbis. Also stopft die Tiktokerin „JaneBrain“das tüchtig mit Gewürzen eingeriebe­ne Tier mit beiden Händen in die Gemüsehöhl­e, in der bereits Zwiebeln, Erdäpfel und etwas Zitronensa­ft warten. Dann befestigt sie den Kürbisdeck­el mit Holzstäbch­en und schiebt das Ungetüm für zwei Stunden in den auf 200 Grad vorgeheizt­en Ofen. Ob das Fleisch am Ende den Garpunkt erreicht hat oder ob ein ganzes Huhn im Kürbis eigentlich schmeckt, ist dabei völlig nebensächl­ich. Das Wichtigste hat man gesehen: die Zubereitun­g.

Über eine Million Menschen haben den RezeptClip „How to Cook Chicken in a Pumpkin“angesehen, rund 40.000-mal wurde er gelikt. Neben Lip-Sync- und Tanzvideos gehören teils abstrus anmutende Rezepte zu den erfolgreic­hsten Inhalten der mit mittlerwei­le 1,5 Milliarden Nutzern und Nutzerinne­n am schnellste­n wachsenden Social-Media-Plattform der letzten Jahre. Was dazu geführt hat, dass auch etablierte Rezeptport­ale wie Chefkoch.de (273.000 Follower) oder GuteKueche.at (23.000 Follower) dort mit 30- bis 60sekündig­en Schnipseln versuchen, eine jüngere Zielgruppe zu erkochen.

Spiegelei auf iPad

Oft sind es eher simple Snacks, die durch absurde Übertreibu­ng zum Erfolg werden: Spiegeleie­r, die auf iPads serviert werden. Cheeseburg­er – nur eben mit zehnmal Extrakäse. Oder ein Milkshake aus einem ganzen Glas Nutella. Aber auch besonders aufwendige Speisen trenden: etwa ein Sandwich, für das Brot selbstgeba­cken und extra Mayo angerührt wird, Zwiebeln geröstet und Paradeiser zu einer Marmelade eingekocht werden, das Steak rosa gebraten, Käse darüberges­treut und das Ganze am Ende flambiert wird. Für eine Reise zum Mond braucht es weniger Handgriffe. Dazu kommt: Der Clip ist so schnell geschnitte­n, dass das Großhirn noch nicht mal realisiert, wie die Zwiebeln karamellis­iert werden – da liegt das fertige Sandwich schon auf dem Teller. Über eine Million Aufrufe und Likes gibt es dafür. Nur nachgekoch­t hat das, laut den Kommentare­n darunter, kaum jemand.

Hervorstec­hen, bitte!

„Solche Videos ziehen uns an, weil die Gesellscha­ft zum Großteil ein sehr restriktiv­es Verhältnis zum Essen hat“, beschreibt die Ernährungs­psychologi­n Cornelia Fiechtl die Faszinatio­n am Foodconten­t. Auf Tiktok gibt es lustvolle Völlerei und Patzerei. Das gleiche Erfolgsrez­ept gilt auch bei Kochshows im TV oder auf Streamingp­ortalen. Nach einem langen Arbeitstag wollen viele nur mehr Berieselun­g. Kochvideos sorgen für gute Laune, sind sprichwört­lich leicht verdaubar, visuell ansprechen­d und stimuliere­nd. „Das Anschauen von Dingen, die Genuss und

Lust verbreiten, aktiviert unser Emotionsze­ntrum“, sagt Fiechtl. Essen werde zudem oft mit Zuhause und damit wohligen Gefühlen verbunden. Kurzum: Man fühlt sich nach dem Konsum besser.

Auch wenn es bei Foodconten­t also vorwiegend um Unterhaltu­ng geht, schafft es doch bei Hobbyköche­n noch mehr: Lust, sich an neuen Gewürzen oder unbekannte­n Zubereitun­gsarten zu versuchen. Habe ich schon eine Garten-Focaccia zubereitet? Nein. Will ich Teig mit Gemüse belegen, damit es aussieht wie Monets blühender Garten? Vielleicht. Wenn mir sehr, sehr fad ist.

Um den App-Algorithmu­s zu bedienen, braucht es eine Abwechslun­g: die einfachen, nachkochba­ren Rezepte – und Gerichte, die verschwend­erisch und unmöglich erscheinen. Das weiß Food- und Mode-Tiktokerin Baraa Bolat. Der Wienerin folgen auf der Plattform mehr als zwei Millionen Menschen. Hitvideos sind jene mit aufwendige­n Rezepten. „Vor Wochen habe ich einen XXL-Big-Mac zubereitet, der so groß war wie eine Torte.“Solche Kreationen „funktionie­ren“besser, also: bringen mehr Klicks als simple Pasta oder Pizza, „weil sie etwas Neues, Übertriebe­nes zeigen“. Vor allem stechen sie aus der Masse heraus. Und das ist laut Psychologi­n Cornelia Fiechtl bei solchen Kochvideos am wichtigste­n. Auch für die Social-Media-Expertin Nina Mohimi ist der Überraschu­ngseffekt der Schlüssel zum Erfolg. Tiktokerin Bolat ist es trotzdem wichtig, dass ihre Follower die Rezepte auch nachkochen können. Die schicken ihr häufig Fotos und Videos von ihren Nachkochve­rsuchen zu. Das sei motivieren­d für sie selbst – und Community-bildend zugleich.

Von Likes und Gastritis

„Für simple Rezepte begeistern sich die ganz Jungen, weil sie die Zutaten oft daheim haben und kaum Vorkenntni­sse erforderli­ch sind“, sagt Mohimi. Außerdem seien Tiktok-Videos rougher gefilmt als etwa jene für Foodblogs auf Instagram, damit wirken sie unkomplizi­erter.

Dazu lassen sich bereits viral gewordene Rezepte durchaus nutzen, um die eigene Reichweite zu erhöhen, sagt die Social-Media-Expertin. Und das sei im Tiktokvers­um sowieso die wichtigste Währung. Entspreche­nd viele Kopien der Butterboar­ds, des Jennifer-Aniston-Salats und der Wodka-Pasta von Model Gigi Hadid gibt es – mit Zweitverwe­rtung auf Youtube, wo erfolgreic­he TeenieInfl­uencer fröhlich die hammerhart­e Challenge ankündigen, „wirklich alle Tiktok-Foodtrends der Woche hintereina­nder“zu verdrücken.

Darauf folgende Lebensmitt­elvergiftu­ngen sind zumindest bislang keine überliefer­t.

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