Der Mensch ist, wie er isst
Ob Tierwohl, ökologische Verwüstung oder Profitgier – als Mensch braucht es einen wertschätzenden Zugang zu Nahrung und deren Aufnahme. Es muss um mehr gehen als eine Zufuhr von Kalorien und Nährstoffen.
Ethik und Moral scheinen in unseren Tagen geradezu zu boomen. Vor allem im politischen und gesellschaftlichen Bereich wird angesichts der um sich greifenden Korruption, Raffgier und Verrohung gegenüber allem Lebendigen immer häufiger die Forderung nach moralischer Sauberkeit erhoben.
Freilich geht das Verlangen nach ethischer Orientierung noch weiter: Es hat sich auf alle Lebensbereiche ausgedehnt, von Technik und Wissenschaft auf unsere Umwelt und unser Gesundheitswesen. Merkwürdig, dass die Forderung nach einer Ethik des Essens und unserer Ernährungsgewohnheiten erst relativ spät erhoben wurde. Dies kann mit der die Philosophie des Abendlandes grundsätzlich prägenden Vernachlässigung unserer Leiblichkeit und den daraus resultierenden oder entstehenden Bedürfnissen erklärt werden.
Seit Platon ist die Philosophie mit wenigen Ausnahmen von Kopflastigkeit geprägt und spricht unserer leiblichen Verfassung nur eine marginale Bedeutung zu. Essen und Ernährung machen nicht die Ganzheit des menschlichen Seins aus, sie konstituieren aber ein beträchtliches Ausmaß unseres Daseins und der damit verflochtenen gesellschaftlichen Realität.
Wenn es um Essen und Trinken geht, findet sich im öffentlichen Diskurs sofort eine Polarität zwischen hochgestochenen und erlesenen Tafelfreuden, verkörpert in den Polen des Gourmets und des Kenners exzellenter Weine einerseits und des weltweiten Hungers und Mangels andererseits. Damit soll keineswegs das Klischee vom luxuriös und erlesen Speisenden und des auf Brotkrumen angewiesenen Armen bemüht werden. Die Problematik einer Ethik des Essens umfasst vielmehr unzählige Bereiche unseres Lebens: von der Landwirtschaft über die Politik, von der Ökonomie über das Gesundheitswesen, von den Ernährungswissenschaften bis zum Tierschutz. Als Fragen im Rahmen einer Verteilungsgerechtigkeit reichen sie weit über unsere liberale, konsumund kapitalorientierte Gesellschaft hinaus.
Ethisches Urteil
Unsere Tafelgewohnheiten haben sich gegenüber lang gehegten Traditionen gründlich geändert. Die Fastfood-Kultur hat das gemeinsame frühere Essen auf freiem Feld, in der Bauernstube, in der Arbeiterunterkunft oder im bürgerlichen Salon ersetzt. Dies hängt nicht zuletzt stark mit der Veränderung der Arbeitsbedingungen zusammen. Am ehesten haben sich die alten Strukturen noch im klösterlichen Leben erhalten. Hungersnöte kennt man in unserer Gesellschaft nur mehr aus den Nachrichten. Hunger allerdings hat mittlerweile wieder in eine Vielzahl von Familien Einzug gehalten.
Nicht nur das Wie, sondern auch das Was des Essens hat sich erheblich verändert, wobei wir selbst bei den von Spitzenköchen zubereiteten Mahlzeiten nie genau wissen können, welche Qualität die Produkte und Inhaltsstoffe, die Speisen enthalten, haben, aber auch, unter welchen Bedingungen sie produziert worden sind. Dies tritt vor allem beim Konsum von tierischen Produkten zutage. Dabei ist gerade das ethische Urteil hinsichtlich des Tierwohls sowie hinsichtlich der Verantwortung für Grund und Boden eindeutig: Massentierhaltung, qualvolle Tiertransporte und Massenschlachtungen sind aus ethischer Sicht ebenso inakzeptabel wie die auf ihnen basierende ökologische Verwüstung von Anbauflächen. Bodenversiegelung, Flussregulierungen und maßlose Bauwut kommen noch hinzu und zerstören das ökologische Gleichgewicht völlig.
Auch wenn die Profitgier der großen Lebensmittelkonzerne für viele negative Auswirkungen mitverantwortlich gemacht werden muss, bleibt sowohl für die Politik als auch für den Einzelnen ein gerüttelt Maß an Verantwortung bestehen. Hat die Politik die Aufgabe, die Produzenten vor dem Preisdumping der Konzerne zu schützen, fällt dem Einzelnen die ethische Verpflichtung zu, seine benötigte Nahrung fürsorglich und verantwortungsbewusst zu beschaffen.
Auch Lebensfreude
Hinzu kommt, dass auch die Medien nicht aus ihrer Verantwortung genommen werden können. Nur ein Beispiel sind Kochshows, in denen Speisen zubereitet werden, die einen hohen finanziellen Aufwand voraussetzen, in einer Zeit, in der es vielen Menschen finanziell schlecht geht, anstatt Rezepte vorzustellen, die „für die kleine Geldbörse“erschwinglich und saisonal ausgerichtet sind. Sinnvoll wäre, nicht nur in den Tagen einer enormen Inflation raffinierte, ausgewogene Speiseabfolgen vorzustellen, ohne großen Zeitaufwand, die sich nicht nur gut Verdienende leisten können. Vorstellbar
wäre doch durchaus ein Duell zwischen Spitzenköchen mit der Auflage: billig, qualitativ hochwertig, ausgewogen, saisonal, (traditionell angelehnt) und nicht zuletzt schmackhaft. Denn die Freude an einem guten Essen mit gutem Wein in möglichst anregender Gesellschaft soll niemandem verwehrt sein, sie ist ein wesentlicher Bestandteil von Lebensfreude.
Es geht aber auch darum, eine Art von Gastrophilie zu entwickeln, die Essen als Selbstzweck ablehnt und gleichzeitig seiner Bedeutung für das Leben gerecht wird. Essen zwischen Tür und Angel mag zwar in vielen Situationen notwendig erscheinen und auch sein, aber als Mensch braucht man prinzipiell einen wertschätzenden Zugang zur Nahrung und deren Aufnahme. Letztere muss mehr sein als eine Zufuhr von Kalorien und Nährstoffen.
Der Mensch muss auch mit Wertschätzung und Muße, vor allem aber mit Freude essen. Die Hostie oder das Brot beim Heiligen Abendmahl schlingen Gläubige ja auch nicht einfach nur hinunter.
PETER KAMPITS ist Gründungs- und Altdekan der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaften an der Universität Wien sowie stellvertretender Vorsitzender der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt.