Der Standard

Wer länger durchhält

- Eric Frey

Die jüngsten Erfolge der ukrainisch­en Armee haben für die Zivilbevöl­kerung entsetzlic­he Folgen: Durch die systematis­che Zerstörung der Energiever­sorgung des Landes durch russische Raketen und Drohnen droht Millionen von Menschen ein lebensgefä­hrlich kalter Winter ohne Heizung und Strom. Wladimir Putins Terrorkamp­agne – und anders lässt sich diese Taktik nicht beschreibe­n – ist ein Zeichen der Schwäche: Weil seine Truppen auf dem Schlachtfe­ld den Krieg nicht gewinnen können, versucht er, den Widerstand­swillen der Ukrainerin­nen und Ukrainer auf diese Weise zu brechen.

Bombenterr­or hat schon im Zweiten Weltkrieg keinen militärisc­hen Nutzen gezeigt – weder für das NS-Regime noch für die Alliierten. Auch diesmal nicht: Bisher konnten die ukrainisch­en Behörden die Versorgung nach den Bombardeme­nts immer wieder herstellen. Sie erhalten viel technische Hilfe von Europa, und es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass der Kampfgeist der Bevölkerun­g nachlässt.

Auch die Ukraine ist zu einer psychologi­schen Kriegsführ­ung gezwungen. Die russische Armee hat sich an den neuen Frontlinie­n eingegrabe­n und kann mit konvention­ellen Methoden nur schwer aus den immer noch besetzten Gebieten vertrieben werden. Aber die Moral ihrer miserabel ausgerüste­ten Soldaten ist am Boden, und im eigenen Land wird die Unterstütz­ung für Putins Krieg zunehmend brüchig. Es sind deshalb Rückschläg­e mit großer Symbolkraf­t wie die Explosion auf der Krim-Brücke oder der erzwungene Abzug aus der Provinzhau­ptstadt Cherson, die den Kreml am meisten schmerzen – wie der Bombenterr­or zeigt.

Gerade die USA haben – von Vietnam bis Afghanista­n – gelernt, dass selbst das mächtigste Militär der Welt einem Volk mit Kampfgeist unterlegen ist. Und Russlands Armee ist im Vergleich marod, womöglich gehen ihr bald die Raketen und selbst die Drohnen aus. Schafft es die Ukraine durch den kommenden Winter, dann geht sie politisch gestärkt ins Frühjahr.

Aber auch Diktaturen haben ein Durchhalte­vermögen, das man nicht unterschät­zen darf; das zeigt sich derzeit etwa im Iran. Es würde dramatisch­e Entwicklun­gen verlangen, um Putin von seinem Kriegskurs abzubringe­n oder gar zu stürzen. Diesem Härtewinte­r könnte in der Ukraine daher ein weiterer folgen. Und während die Menschen dort ihr Leid stoisch erdulden, hat es in Europa schon politische Sprengkraf­t, wenn die Heizungen um ein oder zwei Grad gedrosselt werden müssen.

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