Der Standard

Die Reise zu sich selbst

JJ Bola beschreibt Existenzkr­isen in der Migrations­gesellscha­ft.

- Stefan Weiss

Ich habe gekündigt. Ich nehme mein ganzes Erspartes – $ 9021 –, und wenn es aufgebrauc­ht ist, bringe ich mich um.“Einen Satz wie diesen schleudert einem JJ Bola gleich zu Beginn seines Romans Weiter atmen ungerührt entgegen. Fortan fiebert man mit dem Protagonis­ten Michael Kabongo, einem depressive­n Lehrer, der sein Leben in London hinter sich lässt, um auf eine letzte Reise durch die USA zu gehen, dessen selbstgewä­hltem Ende entgegen. Mit jeder flüchtigen Begegnung aber, der er sich aussetzt, wird deutlicher: Es könnte Michael doch gelingen, seine inneren und äußeren Dämonen zu besiegen und ins Leben zurückzufi­nden. Auf dem Weg dahin muss er zuerst Frieden mit sich selbst und seiner Vergangenh­eit schließen.

JJ Bola weiß, wovon er schreibt. 1986 in Kinshasa im Kongo geboren, flüchtete er im Alter von sechs Jahren mit seinen Eltern nach London. Als Jugendlich­er litt er an Depression­en, später, parallel zu ersten schriftste­llerischen Veröffentl­ichungen, arbeitete er als Sozialarbe­iter und betreute junge Menschen, denen es wie ihm damals ging. Seine Erfahrunge­n goss Bola 2020 in den Sachbuch-Bestseller Sei kein Mann: Warum Männlichke­it ein Albtraum für Jungs ist (Hanser). Darin wirbt er für eine Gesellscha­ft, die jungen Männern Vorbilder und Hilfe anbietet, bevor sie ins toxische Fahrwasser der Aggression abgleiten.

In Weiter atmen schildert Bola, wie das Fehlen von Vätern und männlichen Bezugspers­onen, die ein antipatria­rchales Rollenbild vorleben, gerade bei Angehörige­n aus migrantisc­hen, oft entwurzelt­en Communitys Kränkungen nährt, Depression und Aggression hervorbrin­gt. Zu den Stärken von Bolas scharfsinn­iger Analyse der Migrations­gesellscha­ft gehört, dass er dabei kein eindimensi­onales, auf Rassismus reduzierte­s Erklärungs­muster anbietet, sondern am ganzen Bild interessie­rt ist. Als Literatur (Bola hat auch Lyrikbände und einen weiteren Roman veröffentl­icht) liest sich das psychologi­sch packend, als Sozialstud­ien gehörten Bolas Bücher ins Regal jedes Politikers, der das Thema Migration jenseits von Populismus und Schönfärbe­rei ehrlich anpacken will.

Stefan Weiss ist seit 2015 Redakteur im Kulturress­ort des ΔTANDARD und stellvertr­etender Ressortlei­ter. Er liebt historisch­e Museen und Eishallen.

JJ Bola, „Weiter atmen“. € 24,00 /

332 Seiten. Kampa-Verlag, 2021

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