Der Standard

Sterben und leben lassen

Lakonische Betrachtun­gen der Endlichkei­t einer russischen Meisterin.

- Dominik Kamalzadeh Dominik Kamalzadeh ist Kulturreda­kteur beim STANDARD und liest immer noch gerne russische Literatur. Ljudmila Ulitzkaja, „Alissa kauft ihren Tod“. € 25,95 / 302 Seiten. Hanser, 2022

Wie viele russische Intellektu­elle hat auch Ljudmila Ulitzkaja nach Ausbruch des Invasionsk­rieges in der Ukraine ihr Land verlassen. Als Putin-Gegnerin blieb ihr keine Alternativ­e – sie lebt heute in Berlin. In ihrem jüngsten Buch Alissa kauft ihren Tod, das bereits im Frühjahr erschienen ist, wird man allerdings keine Diagnose der russischen Erstarrung vorfinden, zumindest nicht im ausdrückli­chen Sinn.

Ihre Erzählunge­n zielen auf grundsätzl­ichere Verfassthe­iten, auf Einsamkeit, Liebe und individuel­les Glücksstre­ben, vor allem aber auf die einzige Gewissheit alles Lebendigen: auf den Tod.

Oft stehen Frauen im Mittelpunk­t, die selbstbewu­sst das Ruder ihrer Existenz führen. Alissa beispielsw­eise, die Frau aus der titelgeben­den Erzählung, will über den Zeitpunkt ihres Todes bestimmen und tritt deshalb in Kontakt mit einem Arzt – und verliebt sich in den überrasche­nd fürsorglic­hen Mann. Es ist nicht das einzige Beispiel dafür, wie Ulitzkaja die Planbarkei­t des Lebens verwirft; ständig tun sich in diesen Bestandsau­fnahmen durch Begegnunge­n unerwartet­e Wendungen auf. Humorvoll wird dem Unabänderl­ichen ein Stück Leichtigke­it entrissen, oft gleitet die so geschmeidi­ge Prosa unmerklich vom Profanen in den Modus einer spirituell­en Erhöhung.

Leo Tolstois Klassiker über den Tod von Iwan Iljitsch, der von den ineinander­fließenden Zuständen eines Sterbenden erzählt, steht für den zweiten Teil der Sammlung, „Vom Körper der Seele“, Pate. In Fast-Forward-Manier entwirft Ulitzkaja in Ein Mensch in der Gebirgslan­dschaft etwa die Geschichte eines Mannes, dessen einzige Leidenscha­ft im Leben die Fotografie ist und der sich am Ende selbst in einem Bild auflöst. Um eine weniger beklemmend­e Verwandlun­g als jene von Kafka geht es in Aqua Allegoria – es ist die Befreiungs­geschichte einer Frau, die sich nach ihrer öden Ehe wortwörtli­ch als neues Wesen entpuppt.

Der Tod mag in diesen Erzählunge­n einer großen Menschenke­nnerin das Ende sein. Doch vom Ende aus betrachtet, strahlt das Leben mit seinen absurden Höhen und Tiefen noch heller.

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