Sterben und leben lassen
Lakonische Betrachtungen der Endlichkeit einer russischen Meisterin.
Wie viele russische Intellektuelle hat auch Ljudmila Ulitzkaja nach Ausbruch des Invasionskrieges in der Ukraine ihr Land verlassen. Als Putin-Gegnerin blieb ihr keine Alternative – sie lebt heute in Berlin. In ihrem jüngsten Buch Alissa kauft ihren Tod, das bereits im Frühjahr erschienen ist, wird man allerdings keine Diagnose der russischen Erstarrung vorfinden, zumindest nicht im ausdrücklichen Sinn.
Ihre Erzählungen zielen auf grundsätzlichere Verfasstheiten, auf Einsamkeit, Liebe und individuelles Glücksstreben, vor allem aber auf die einzige Gewissheit alles Lebendigen: auf den Tod.
Oft stehen Frauen im Mittelpunkt, die selbstbewusst das Ruder ihrer Existenz führen. Alissa beispielsweise, die Frau aus der titelgebenden Erzählung, will über den Zeitpunkt ihres Todes bestimmen und tritt deshalb in Kontakt mit einem Arzt – und verliebt sich in den überraschend fürsorglichen Mann. Es ist nicht das einzige Beispiel dafür, wie Ulitzkaja die Planbarkeit des Lebens verwirft; ständig tun sich in diesen Bestandsaufnahmen durch Begegnungen unerwartete Wendungen auf. Humorvoll wird dem Unabänderlichen ein Stück Leichtigkeit entrissen, oft gleitet die so geschmeidige Prosa unmerklich vom Profanen in den Modus einer spirituellen Erhöhung.
Leo Tolstois Klassiker über den Tod von Iwan Iljitsch, der von den ineinanderfließenden Zuständen eines Sterbenden erzählt, steht für den zweiten Teil der Sammlung, „Vom Körper der Seele“, Pate. In Fast-Forward-Manier entwirft Ulitzkaja in Ein Mensch in der Gebirgslandschaft etwa die Geschichte eines Mannes, dessen einzige Leidenschaft im Leben die Fotografie ist und der sich am Ende selbst in einem Bild auflöst. Um eine weniger beklemmende Verwandlung als jene von Kafka geht es in Aqua Allegoria – es ist die Befreiungsgeschichte einer Frau, die sich nach ihrer öden Ehe wortwörtlich als neues Wesen entpuppt.
Der Tod mag in diesen Erzählungen einer großen Menschenkennerin das Ende sein. Doch vom Ende aus betrachtet, strahlt das Leben mit seinen absurden Höhen und Tiefen noch heller.