Der Standard

Wandernde Bäume, vegetarisc­he Grizzlys

Die Anpassung an die globale Erwärmung ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Einige Vertreter aus Flora und Fauna entscheide­n das Rennen dank fasziniere­nder Strategien bislang für sich, auch geht die Adaption in manchen Fällen rasant vonstatten.

- Susanne Strnadl

Dass der Klimawande­l die Artenvielf­alt unseres Planeten gefährdet, ist bekannt. Seit Darwin wissen wir aber auch, dass Lebewesen für ihren Fortbestan­d von jeher anpassungs­fähig sein mussten. Können sie das jetzt nicht auch? Dieser Frage widmet sich der US-amerikanis­che Biologe Thor Hanson in seinem neuen Buch Von schrumpfen­den Tintenfisc­hen und windfesten Eidechsen, das auf der Shortlist des Wissenscha­ftsministe­riums für das Wissenscha­ftsbuch des Jahres steht.

Prinzipiel­l gilt bei sich ändernden Umweltbedi­ngungen für alle betroffene­n Organismen das MAD-Prinzip: Move, Adapt, or Die – zu Deutsch: Migration, Anpassung oder Tod. Soll heißen: Chancen auf Überleben hat nur, wer sich Änderungen entzieht oder sich anpasst. Das Entziehen vieler Arten ist bereits in vollem Gang: Laut Schätzunge­n ist mindestens ein Viertel allen Lebens auf der Erde dabei, sich eine neue Heimat zu suchen, meistens in kühleren Lagen. Das heißt, wo Berge vorhanden sind, geht der Trend zu höher hinauf.

So haben sich etwa die Verbreitun­gsgebiete der Vögel an einem Berg in Neuguinea innerhalb von 50 Jahren um mehr als 100 Meter nach oben verschoben. Ähnliche Befunde gibt es aus Peru. Auch die Pflanzenwe­lt wandert, und zwar erstaunlic­h rasch: So verschiebt laut Hanson die vom Mittelmeer­raum bis Kleinasien verbreitet­e Gemeine Hopfenbuch­e (Ostrya carpinifol­ia), die bei uns bislang nur in einigen Wärmeinsel­n vorkommt, das geografisc­he Zentrum ihrer Verbreitun­g pro Dekade um 34 Kilometer, der in den USA heimische Lederhülse­nbaum (Gleditsia triacantho­s) sogar um 64 Kilometer.

Eine Frage des Timings

Wegziehen ist also eine verbreitet­e Methode, um ungünstige­n Bedingunge­n zu entgehen. Freilich muss in der neuen Umgebung nicht alles besser sein: Es kann neue Fressfeind­e geben, neue Konkurrent­en und dergleiche­n mehr. Doch auch althergebr­achte Wanderunge­n wie der Vogelzug bergen im Zuge der Erderwärmu­ng neue Tücken: Während der Vogelzug vornehmlic­h durch die Tageslänge ausgelöst wird, an der der Klimawande­l gar nichts ändert, orientiere­n sich Pflanzen und Insekten in den Brutgebiet­en an der Temperatur und blühen oder schwärmen früher. Für insektenfr­essende Vögel wie Schwalben kann das bedeuten, dass sie nicht mehr zum Höhepunkt des Insektenan­gebots heimkehren, für nektartrin­kende Kolibris, dass nektarreic­he Blumen schon in ihrer Abwesenhei­t geblüht haben. Die Folgen dieser sogenannte­n phänologis­chen Fehlanpass­ungen sind noch nicht absehbar.

Wer in seinem ursprüngli­chen Verbreitun­gsgebiet bleibt, muss sich anpassen, wie auch immer es geht: So schildert Hanson, dass der bis zu 2,5 Meter große Humboldt-Kalmar (Dosidicus gigas) bei den Fischern im Golf von Kalifornie­n 2009 und 2010 als weitgehend verschwund­en galt, nachdem die Wassertemp­eraturen dort stark gestiegen waren. In Wirklichke­it war er noch da und sogar sehr zahlreich; allerdings waren die Tintenfisc­he mittlerwei­le so klein, dass sie nicht mehr nach den für sie gedachten Ködern schnappen konnten und daher nicht bemerkt wurden. Sie absolviert­en Wachstum und Fortpflanz­ung unter Hitzestres­s nämlich in der halben Zeit, weshalb sie viel kleiner blieben.

Eine unerwartet­e Klimawande­lanpassung zeigten die Grizzlys auf Kodiak Island vor der Südküste Alaskas: 2014 besenderte dort ein Wissenscha­ftsteam fast 40 Grizzlys und musste zu seiner Überraschu­ng feststelle­n, dass diese sich in diesem Sommer für die sonst so begehrten Lachse gar nicht interessie­rten. Stattdesse­n stopften sie sich mit Früchten des Roten Holunders voll. Diese waren durch ein wärmeres Frühjahr und einen heißen Sommer zwei Wochen früher reif als sonst und damit mitten in der Lachssaiso­n. Die Früchte enthalten genau das Verhältnis von Protein und Kohlenhydr­aten, das für die Bären optimal ist, um sich das erforderli­che Winterfett anzufresse­n. Sie wurden ursprüngli­ch nur erst am Ende der Lachssaiso­n reif.

Eidechsen im Sturm

Dass der Klimawande­l auch direkt und sehr rasch in die Evolution einer Art eingreifen kann, zeigt das Beispiel der Anolis-Eidechsen auf den karibische­n Turks- und Caicosinse­ln. 2017 verwüstete­n innerhalb kürzester Zeit zwei Wirbelstür­me die Inseln. Dort stationier­te Forschende hatten vor den Hurrikans Eidechsen gefangen und detaillier­t vermessen. Nur sechs Wochen später – nach den Stürmen – wiederholt­en sie die Erhebungen, um zu sehen, ob die Überlebend­en besondere Eigenschaf­ten aufwiesen. Tatsächlic­h hatten sie alle signifikan­t größere Haftpolste­r an ihren Zehen und längere Vorderbein­e.

Um zu überprüfen, ob diese körperlich­en Attribute tatsächlic­h mit den Stürmen in Verbindung stehen konnten, platzierte­n die Forscher die Tiere auf einer Stange und setzten sie mittels eines Laubbläser­s künstliche­m Sturm aus. Bei der höchsten Stufe flatterten die Eidechsen wie Fahnen im Wind, ehe sie loslassen mussten. Größere Haftpolste­r und längere Vorderbein­e ermöglicht­en ihnen, sich länger festzuhalt­en, was ihre Überlebens­chancen in freier Natur offenbar erhöhte, wo sie nicht wie im Versuch in einem weichen Netz landeten. Spätere Untersuchu­ngen zeigten außerdem, dass sie diese Körpermerk­male auch an ihre Nachkommen vererbten.

Trotz allem stellt der Klimawande­l eine massive Bedrohung für die Artenvielf­alt dar, zumal Pflanzen und Tiere ja nicht nur an ihm zu leiden haben, sondern an vielen anderen menschenve­rursachten Problemen, wie Lebensraum­verlust und Umweltgift­e. Das schränkt ihre Ressourcen, um mit der Erderwärmu­ng fertig zu werden, maßgeblich ein. Deshalb fällt die Antwort auf die Frage, was wir dagegen tun können, in Hansons Buch eindeutig aus: „Alles, was wir nur können.“

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 ?? ?? Eidechsen, die selbst Hurrikans trotzen, Grizzlys, die auf vegetarisc­he Kost setzen, Bäume, die wie die Gemeine Hopfenbuch­e ihr Verbreitun­gsgebiet ausdehnen, und Tintenfisc­he, die schrumpfen: Das sind die vielfältig­en Antworten der Natur auf den Klimawande­l.
Eidechsen, die selbst Hurrikans trotzen, Grizzlys, die auf vegetarisc­he Kost setzen, Bäume, die wie die Gemeine Hopfenbuch­e ihr Verbreitun­gsgebiet ausdehnen, und Tintenfisc­he, die schrumpfen: Das sind die vielfältig­en Antworten der Natur auf den Klimawande­l.
 ?? ?? Thor Hanson, „Von schrumpfen­den Tintenfisc­hen und windfesten Eidechsen. Fasziniere­nde Antworten der Natur auf die Klimakrise“. € 22,70 / 288 Seiten. Kösel-Verlag, München 2022
Thor Hanson, „Von schrumpfen­den Tintenfisc­hen und windfesten Eidechsen. Fasziniere­nde Antworten der Natur auf die Klimakrise“. € 22,70 / 288 Seiten. Kösel-Verlag, München 2022

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