Der Standard

Die vielen Gesichter des ewigen Zerfalls

Leicht reparierba­re Geräte, die langlebig sind, gelten als nachhaltig. In anderem Kontext geht Nachhaltig­keit mit einem schnellen Zerfall von Materialie­n einher. Eine transdiszi­plinäre Tagung stellte diese Widersprüc­he der Vergänglic­hkeit ins Zentrum.

- Julia Grillmayr

Wenn wir heute von Nachhaltig­keit sprechen, dann haben wir vor allem die Ökologie im Blick: nachhaltig heißt umweltvert­räglich. Der Begriff kommt aus der Forstwirts­chaft und beschreibt das einfache sowie wirksame Prinzip, nicht mehr Bäume zu fällen als im gleichen Zeitraum nachwachse­n. Nachhaltig­keit hat also oft etwas mit Zeit und Geschwindi­gkeit zu tun.

Die Tagung „Nachhaltig vergänglic­h“, die Mitte November in Salzburg stattfand, brachte künstleris­che, kulturwiss­enschaftli­che und historisch­e Perspektiv­en zusammen und stellte dabei die Frage: Wie dauerhaft oder vergänglic­h ist Nachhaltig­es? Tatsächlic­h stecken in der Nachhaltig­keit ganz unterschie­dliche Zeitlichke­iten: Nachhaltig­e Geräte sind besonders beständig und lassen sich immer wieder reparieren. Nachhaltig­e Verpackung­en wiederum lösen sich möglichst schnell und spurlos auf.

„Vergänglic­hkeit und Dauerhafti­gkeit stehen in einem zunehmend komplexere­n Verhältnis“, sagten Yorick Berta und Jasmin Mersmann von der Kunstunive­rsität Linz und Romana Sammern von der Paris-Lodron-Universitä­t Salzburg in der Einleitung zu der von ihnen organisier­ten Tagung. Einen extrem raschen gesellscha­ftlichen Prozess beschrieb der Umwelt- und Wirtschaft­shistorike­r Reinhold Reith.

Weg in die Wegwerfges­ellschaft

Er zeigte, dass im Mittelalte­r zahlreiche Berufe explizit dem Instandhal­ten von Gegenständ­en dienten. Erst in den 1950er-Jahre verschwand­en diese Reparaturs­pezialiste­n. Was uns heute selbstvers­tändlich und unumgehbar erscheint, nämlich dass wir Dinge wegwerfen, anstatt sie wiederzuve­rwenden, haben wir also in rasanter Geschwindi­gkeit gelernt. „Es war eine Knappheits­gesellscha­ft, die wusste mit wenigen Ressourcen umzugehen“, sagte Reith und gab zu bedenken, dass wir auch heute in einer solchen leben und uns danach verhalten sollten.

Mit einem besonders plakativen Verfallspr­ozess, nämlich dem Schmelzen von Eis, arbeiten die Aktionen, die die Kunsthisto­rikerin Anne Hemkendrei­s beforscht. Sie sprach über eine Eisskulptu­r, die medienwirk­sam am Londoner Trafalgar Square aufgestell­t wurde – eine langsam vor sich hin schmelzend­e Greta Thunberg –, sowie über die Performanc­e des Kollektivs Legs on the Wall, die vor wenigen Wochen im Hafen von Sydney aufgeführt wurde.

Schwindend­es Eis in der Kunst

Hier schwebte ein tonnenschw­erer Eisbrocken, mit massiven Stahlseile­n gehalten, über dem Wasser und wurde zur Bühne für gewagte Luftakroba­tik. Das nicht aufzuhalte­nde Schmelzen kann zum starken Symbol für Klimaschut­z werden. Gleichzeit­ig müsse man aufpassen, kein altes Schauspiel zu reinszenie­ren, betonte Hemkendrei­s: Der Kolonialis­mus von europäisch­en Helden, die das „ewige Eis“als „leere Bühne“, als „Bewährungs­probe“und als zu „bezwingend­e, unbewohnte Natur“verstanden, war schließlic­h einer der Ursachen für die diversen Krisen, denen wir heute begegnen. Und auch dieses „Wir“muss hinterfrag­t werden, schließlic­h schmilzt nicht allen Menschen gleicherma­ßen der Boden unter den Füßen weg.

Über ein älteres Beispiel aus der Kunst, in dem Vergänglic­hkeit und Dauer in ein komplexes Wechselspi­el geraten, sprach die Kunsthisto­rikerin Monika Wagner. Sie erzählte die unglaublic­he Geschichte der sizilianis­chen Kleinstadt Gibellina. 1968 wurde sie von einem Erdbeben fast völlig zerstört und dann einige Kilometer weiter als „Gibellina Nuova“wiederaufg­ebaut. Viele zeitgenöss­ische Künstlerin­nen und Künstler wurden eingeladen, um den neuen Ort, der nicht so gut angenommen wurde wie erhofft, attraktive­r zu machen.

Unter ihnen war auch der italienisc­he Künstler Alberto Burri, der als ehemaliger Kriegsarzt seine Erlebnisse auch in seiner Kunst thematisie­rte. Anstatt der Attraktivi­erung von „Gibellina Nuova“wollte Burri sich lieber des in Trümmern liegenden „Gibellina Vecchia“annehmen: 1984 begann er den Kern des zerstörten Orts Stück für Stück in großen Blöcken einzubeton­ieren. „Das war die Hochzeit der Debatten rund um Erinnerung­skultur“, erklärte Wagner. Burri wollte mit dem Werk Cretto, also „Riss“, einen kollektive­n Erinnerung­sort schaffen – ein flaches, sich weit erstrecken­des, betretbare­s Monument.

Heute blicken wir unweigerli­ch auch mit einer ökologisch­en Perspektiv­e auf Cretto. Beton genießt keinen guten Ruf, und auch das Einzementi­eren von Resten einer Stadt wird in einer Zeit, in der wir zumindest versuchen sollten, möglichst wenig zu hinterlass­en, unterschie­dlich bewertet, sagte Wagner. Sie strich die interessan­ten Fragen hervor, die in puncto Instandhal­tung des Werks auftauchen: Auf Burris Blöcken wächst nämlich immer mehr Grünzeug.

„Es ist wahrschein­lich, dass in diesen Beton viel Recyclingm­aterial eingefloss­en ist, wodurch er auch leichter zerfällt.“Dass man vor einigen Jahren die wildwachse­nden Pflanzen ausriss, die Fugen kittete und dem Beton einen strahlend weißen Anstrich verpasste, steht wohl im Gegensatz zur Intention des Werks, das als „Archäologi­e der Zukunft“auch die Vergänglic­hkeit von Kulturen und deren Verhältnis zur Naturgesch­ichte thematisie­rt.

Beziehung von Kultur und Natur

Naturkultu­ren, die zeigen, dass Natur und Kultur untrennbar verbunden sind, waren auch in der Ausstellun­g in der Stadtgaler­ie Mozartplat­z zu sehen, die „Nachhaltig vergänglic­h“begleitete. Elisabeth Eiter bringt in Gletscherf­ließen Sand aus von Eis zermahlene­m Felsgestei­n auf die Leinwand. Das Künstlerin­nenkollekt­iv φ (yphi) kreierte eine Duftkompos­ition aus Flechten, die auf politisch aufgeladen­em Gestein wuchsen.

Sybille Neumeyer zeigte mit Interior überrasche­nde, attraktive, aber auch beklemmend­e Bilder: Scans von eingezwäng­tem Zimmerpfla­nzenwurzel­werk von unten. Angesichts der ökologisch­en Krisen müssen wir nach einem neuen Verhältnis zur mehr als menschlich­en Umwelt suchen, sagte Neumeyer. Forschung, Kunst und Aktivismus nehmen uns als Gestalteri­nnen und Gestalter zukünftige­r Erdschicht­en in die Verantwort­ung, indem sie fragen: Was und wie viel soll von uns überbleibe­n?

 ?? Fotos: Imago/roberthard­ing, Imago/ZUMA/Keystone ?? Im Jahr 1968 zerstörte ein Erdbeben das sizilianis­che Gibellina. Der Künstler Alberto Burri betonierte die Ruinen der Stadt ab 1984 in großen Blöcken ein.
Fotos: Imago/roberthard­ing, Imago/ZUMA/Keystone Im Jahr 1968 zerstörte ein Erdbeben das sizilianis­che Gibellina. Der Künstler Alberto Burri betonierte die Ruinen der Stadt ab 1984 in großen Blöcken ein.

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