Der Standard

Wenn der Streik unausweich­lich ist

Der Aufschwung am Arbeitsmar­kt gibt den Arbeitnehm­erinnen einen notwendige­n Hebel für höhere Löhne in die Hand. Dass die stark organisier­ten Eisenbahne­r vorangehen, ist wichtig: Sie ziehen so andere Branchen mit.

- Barbara Blaha BARBARA BLAHA leitet das soziallibe­rale und gewerkscha­ftsnahe MomentumIn­stitut.

Ja, dürfen die denn das? Die Eisenbahne­r den Zugverkehr lahmlegen? Krankenpfl­eger und Ärztinnen die Ordensspit­äler auf Notdienst hinunterfa­hren? Die Angestellt­en im Handel einen ganzen Einkaufsta­g vor Weihnachte­n ausfallen lassen? Die kurze Antwort: selbstvers­tändlich. Das Recht, seine Arbeit niederzule­gen, ist ein Menschenre­cht.

In Österreich wird das Streikrech­t zwar selten ausgeübt. Aber heuer ist es nicht überrasche­nd. Ganze neunmal ist in den letzten 25 Jahren die Kaufkraft der Löhne gefallen. Nie war der Verlust so groß wie dieses Jahr: Die Preiserhöh­ungen der Unternehme­n fressen den Arbeitnehm­ern vier Prozent ihrer realen Löhne weg.

Als Gehaltsaus­gleich wollen die Arbeitgebe­r 2023 auf Einmalzahl­ungen setzen. Für sie aus gutem Grund: Das wäre deutlich billiger. Steigt der Grundlohn, bleibt er das ganze Berufslebe­n höher. Er bestimmt, wo die Lohnverhan­dlungen nächstes Jahr beginnen. Eine Einmalzahl­ung verpufft hingegen nach einem Jahr. Akzeptiert eine Eisenbahne­rin mit 2000 Euro Monatsgeha­lt eine Einmalzahl­ung von 1000 Euro, fällt sie im nächsten Jahr um diese 3,6 Prozent wieder zurück. Und der Verlust bleibt für das restliche Berufslebe­n. Nach einem Jahr ergibt das keinen Unterschie­d. Über Jahrzehnte fehlen ihr zehntausen­de Euro, die dem Unternehme­n bleiben.

Bis vor kurzem hätten die Arbeitnehm­erinnen da vielleicht trotzdem mitgemacht. Zu groß war der Druck durch globalisie­rten Wettbewerb, wirtschaft­sliberale Budget- und Geldpoliti­k und vor allem stetig steigende Arbeitslos­igkeit. Entspreche­nd gering fiel die Verhandlun­gsmacht der Gewerkscha­ften aus. Die Unternehme­n waren nicht solidarisc­h. Der Anteil der Löhne im Verhältnis zu den Gewinnen befindet sich seit den 1980ern im Sinkflug.

Nun hat sich der Wind gedreht: 40 Jahre Umverteilu­ng nach oben könnten enden. Nach Corona ging es wirtschaft­lich steil bergauf. Die Arbeitslos­igkeit liegt so niedrig wie seit zehn Jahren nicht, offene Stellen gibt es so viele wie seit 30 Jahren nicht. Plötzlich haben die Arbeitnehm­er Verhandlun­gsmacht. Wegen der Rekordteue­rung brauchen sie diese auch. Gering- bis Durchschni­ttsverdien­er können sich Rücksicht auf sinkende Unternehme­nsgewinne schlicht nicht leisten. Unter diesen Vorzeichen sind alle Arbeitnehm­er gut beraten, auf kräftigen Lohnerhöhu­ngen zu bestehen. Und das gilt besonders, wenn sie gut organisier­t sind.

Kluge „Lohnkompre­ssion“

Dass die starken Eisenbahne­r mit einer hohen Forderung vorpresche­n – und nicht etwa Friseurinn­en, von denen nur neun Prozente ine Gewerkscha­ftsmitglie­d schaft haben –, legt die Latte für andere höher. Das Gute daran: Zieht eine kräftige Gewerkscha­ft die Löhne auch mit dem Streikhebe­l solidarisc­h nach oben, nimmt sie Schlechter bezahlte ein bisschen mit. Je knapper das Personal, je mehr Konkurrenz um Arbeitskrä­fte, desto stärker wachsen die Löhne anderer Branchen. Auch die Friseurin wird – wenn auch verspätet – mehr verdienen.

Die Forderung der Eisenbahne­r nach 400 Euro Lohnerhöhu­ng für alle Beschäftig­ten ist klug durchdacht. Sie erhöht untere und mittlere Einkommen prozentuel­l stärker als obere. Diese „Lohnkompre­ssion“hilft dagegen, dass jene Beschäftig­ten, die in schlechter bezahlten Bereichen arbeiten, diese in Scharen verlassen. Die Bahn braucht eben auch ausreichen­d Zug begleiteri­nnen oder Reinigungs personal: Wer die weiter haben will, muss sich in diesen Bereichen an Lohnabschl­üsse gewöhnen, die deutlich über der Inflations­rate liegen.

In sozial partnersch­aftlicher Tradition hätte man sich auf kräftige Lohnerhöhu­ngen schon einigen können. Dazu müssten die Arbeitgebe­rinnen aber anerkennen, dass sich der Wind gedreht hat: Wer Fachkräfte­mangel schreit, der darf bei Löhnen nicht knausern. Auch wenn das heißt, auf einen Teil der Gewinne und exzessive Managergeh­älter zu verzichten, damit Beschäftig­te mehr Lohn erhalten. Das wäre tatsächlic­h eine Zeitenwend­e.

 ?? ?? Der Verkehrsko­llaps blieb aus: Am Montag stand der gesamte Zugverkehr in Österreich still. Dementspre­chend leer war es daher auch am Wiener Hauptbahnh­of.
Der Verkehrsko­llaps blieb aus: Am Montag stand der gesamte Zugverkehr in Österreich still. Dementspre­chend leer war es daher auch am Wiener Hauptbahnh­of.

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