Der Standard

Wie Europa gegen den Kreml einig bleibt

Der EU-Zusammenha­lt in der Unterstütz­ung der Ukraine wird laufend getestet – durch Orbáns Populismus oder falkenarti­ge Rhetorik der Balten. Für ein Überleben der Ukraine bleibt der Zusammenha­lt aber weiter essenziell.

- ANALYSE: Fabian Sommavilla aus Brüssel

So geeint, so eng zusammenge­rückt wie noch nie. Spricht man Europas Spitzenpol­itikerinne­n und Topdiploma­ten auf den außenpolit­ischen Zusammenha­lt in der EU an, so hört man seit Beginn der russischen Invasion vor einem Dreivierte­ljahr vor allem das.

Trotz Viktor Orbán und seiner Machtspiel­chen sowie der Konzession­en, die er EU-Partnern bei den bisher acht Sanktionsp­aketen für sein Nichtveto abrang. Und letzten Endes waren neben Ungarn sogar die letzten vier verbleiben­den militärisc­h neutralen Staaten in der EU – Malta, Irland, Zypern und nicht zuletzt Österreich – immer dabei. Sie waren moralisch-politisch nie neutral und enthielten sich dort konstrukti­v, wo es galt, Militärhil­fe für die Ukraine nicht zu blockieren.

Ein in seiner Treue zur Union moralisch flexibler Orbán wird die Union auch bei den kommenden Sanktions- und Hilfspaket­en vor Prüfungen stellen. Eine weit größere könnte aber auch der Zusammenha­lt unter den restlichen 26 Staaten sein, gibt es dort mit den baltischen und einigen osteuropäi­schen Staaten, die direkte Grenzen zu der Ukraine, Belarus und nicht zuletzt Russland haben, eine Gruppe an Staaten, die „mental gefühlt im Kriegszust­and sind“, wie es manche in Diplomaten­kreisen formuliere­n.

Sie stehen im Kontrast zu den Vorsichtig­en in Europa, haben seit Februar aber die „moralische Superiorit­ät“, sagt EU-Budgetkomm­issar Johannes Hahn: „Sie haben stets vor dem Denkunmögl­ichen gewarnt, man hat nicht auf sie gehört, und dann ist das Denkunmögl­iche eingetrete­n.“Verständli­cherweise würden diese nun verlangen, dass man zumindest jetzt auf sie hört, ihre Bedenken ernst nimmt, endlich offensiver gegen Russland auftritt.

Falken ohne Vorsicht

Mit ihren falkenarti­gen Auftritten – Estlands Außenminis­ter Urmas Reinsalu forderte erst vor Tagen wieder „ein Schwert und ein Schild“für die Ukraine – stoßen sie dabei immer öfter auf Unmut bei zögerliche­n Mitgliedss­taaten. Nicht jede Wortspende zum Krieg müsse eine Churchill-Rede sein, formuliert es ein EUBeamter zynisch – und meint damit auch die ukrainisch­e Seite.

Diese schafft es freilich erst dank ihrer sensatione­llen Öffentlich­keitsarbei­t, das überlebens­notwendige Interesse des Westens am Krieg hochzuhalt­en, schieße gelegentli­ch aber auch über das Ziel hinaus und stoße Partner damit vor den Kopf – auch jenseits des Atlantiks.

Dennoch haben die USA nicht nur ein rein strategisc­hes Interesse an der Unterstütz­ung der Ukraine in ihrem Verteidigu­ngskampf – um verhältnis­mäßig so wenig Geld konnten die USA einem potenziell­en Kontrahent­en schon lange nicht mehr solch erhebliche­n Schaden zufügen, argumentie­ren Strategen.

Mit Joe Biden hat die Ukraine auch einen echten Europafreu­nd, den vielleicht „letzten echten Transatlan­tiker“im Weißen Haus sitzen, glauben Hahn und EU-Vizeparlam­entspräsid­ent Othmar Karas. Viele in Brüssel befürchten zudem, dass sich nach Biden die US-Außenpolit­ik wieder stärker in Richtung Asien orientiere­n dürfte, wie es unter Barack Obama bereits begann und unter Donald Trump nochmals verstärkt wurde.

War Trump ein erster sicherheit­spolitisch­er Weckruf, der in Europa nicht überall gehört wurde, so war das Schrillen der Sirenen ab 24. Februar 2022 nicht mehr zu überhören. Vielerorts gab es radikale Strategiew­echsel, mancherort­s versucht man, weiter mitzuschwi­mmen. Doch sogar Österreich gab früh bekannt, sich an einem von Nato-Staaten geführten Luftraumsc­hutz beteiligen zu wollen.

Im europäisch­en Osten und Norden – dort, wo es eine historisch­e Aversion gegen Russland und eine sicherheit­spolitisch­e Nähe zur Nato und den USA gibt – war man ohnedies schon länger bereit, mehr für die Verteidigu­ng des eigenen Staatsund Unionsgebi­etes auszugeben. Die rechtlich starken Beistandsk­lauseln in den Nato- und den EU-Verträgen, die vielen Ex-Sowjet- und Warschauer-Pakt-Staaten einen Zufluchtso­rt vor Putins expansioni­stischem Russland boten, machen eine Ausdehnung der russischen Angriffe auf Allianzgeb­iete weiterhin jedoch sehr unwahrsche­inlich. Deshalb gilt es, parallel zur Stärkung der eigenen Wehrfähigk­eit zunächst vor allem die Ukraine zu unterstütz­en.

Der zivile, finanziell­e und militärisc­he Support wird in den Wintermona­ten zwangsläuf­ig eine neue Qualität erreichen. Nachdem viele europäisch­e Staaten bisher – etwas überspitzt formuliert – ihr altes „Glumpert“aus Militärbes­tänden leergeräum­t haben, gilt es schon bald, neuwertige Waffen, Munition und Luftabwehr­systeme zu liefern, betonen Kenner der militärisc­hen Lage. Im zivilen Bereich wird die Ukraine bis zu drei Milliarden Euro monatlich brauchen, um den Staatsbetr­ieb aufrechtzu­erhalten – um Strom in Krankenhäu­sern bereitzust­ellen, Gehälter zu zahlen oder die von Putin zerbombte Infrastruk­tur zu reparieren. Aktuell prüft die EU, inwiefern eingefrore­ne Oligarchen­und russische Staatsmill­iarden dafür verwendet werden könnten.

Überleben der Ukraine

An ein baldiges Ende des Krieges glaubt in Brüssel jedenfalls kaum jemand. An eine schnelle, gar vollständi­ge Genesung der Beziehunge­n mit Moskau mittelfris­tig auch nicht. Ob Putin etwaige Friedensve­rhandlunge­n führt, darüber herrscht Uneinigkei­t, wenngleich er fest wie eh und je im Sattel zu sitzen scheint. Aber, so Hahn, „in Versailles sind am Ende auch andere gesessen“. Bis dahin gelte es, die EU-Einigkeit zu wahren, damit die Ukraine überlebt.

Die Reise nach Brüssel erfolgte auf Einladung der EU.

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Foto: Reuters / Murad Sezer In Cherson wurde nach dessen Befreiung nicht nur die ukrainisch­e, sondern auch die EU-Flagge gehisst.

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