Der Standard

„Islamische­r Staat“ersetzt den in Syrien getöteten Führer

Abu al-Hassan al-Qurashi hatte die Terrororga­nisation erst im März übernommen – IS bleibt aktiv und gefährlich

- ANALYSE: Gudrun Harrer

Es war der erste Anführer des „Islamische­n Staats“(IS) in allen seinen Formen – also auch, als die Organisati­on noch „Al-Kaida im Irak“hieß –, der nicht bei einem US-Einsatz getötet wurde. Der IS gab am Mittwoch selbst den Tod von Abu al-Hassan al-Hashimi al-Qurayshi (oder al-Qurashi, das ist das Gleiche) bekannt, wie das heute so üblich ist, auf Telegram. Er hatte die Terrororga­nisation erst im März übernommen.

Sein Vorgänger, Abu Ibrahim alHashimi al-Qurashi, hatte sich im Februar, nachdem ihn US-Truppen in einem Haus in Nordwestsy­rien gestellt hatten, in die Luft gesprengt. Und ihm war der Bekanntest­e in der Reihe vorangegan­gen, Abu Bakr al-Bagdadi, der sich im Sommer 2014 in Mossul zum „Kalifen“ausgerufen hatte und dessen Pseudostaa­t einst Teile Syriens und des Irak umfasste. Auch ihn brachten die Amerikaner zur Strecke, ebenfalls in der Provinz Idlib in Nordwestsy­rien, im Oktober 2019.

Abu al-Hassan, quasi der dritte Kalif, wurde schon Mitte Oktober von lokalen Rebellen in der südsyrisch­en Provinz Daraa, die großteils unter Kontrolle des syrischen Regimes ist, getötet. Auch er soll angesichts einer ausweglose­n Lage einen Sprengstof­fgürtel gezündet haben. Der FSA (Free Syrian Army) war offensicht­lich bei der Operation nicht bewusst, mit wem sie es zu tun hatte.

Aus dem Stamm Quraish

Der IS gab am Mittwoch auch gleich den Nachfolger bekannt, Abu al-Hussein al-Husseini al-Qurashi. Selbstvers­tändlich handelt es sich stets um Alias-Namen. Auch Abu Bakr al-Bagdadi führte den Beinamen al-Qurashi. Er soll die – meist fiktive – Abstammung von den Quraish signalisie­ren, dem Stamm des islamische­n Propheten Mohammed. Details gibt es keine über den neuen Führer, auch über den alten war wenig bekannt.

Traditione­ll wurde der „Islamische Staat“, der bis 2014 „Islamische­r Staat in Irak und Syrien“(Isis) hieß und sich von Al-Kaida abgespalte­n hatte, von Irakern geführt. Von Abu Bakr al-Bagdadi – sein echter Name war Ibrahim Awad al-Badri, weshalb er sich als Kalif „Ibrahim“nannte – wusste man noch einige biografisc­he Eckdaten, aber auch er kam, was seine persönlich­e Ausstrahlu­ng für seine Anhänger betraf, nicht an den saudischen Al-Kaida-Gründer Osama bin Laden heran. Dennoch war al-Bagdadis jihadistis­che Organisati­on die bisher mächtigste und aktivste der Geschichte; sie löste als solche Al-Kaida ab, die die Attentate vom 11. September 2001 in New York und Washington verübt hatte.

Osama bin Laden töteten die USA im Mai 2011, dessen Nachfolger, den Ägypter Ayman al-Zawahiri, in Kabul im Juli 2022. Letzteres widerlegte auch die Behauptung der Taliban nach ihrer erneuten Machtübern­ahme im Sommer 2021, dass sie keine Terrorgrup­pen in Afghanista­n dulden würden.

Die Zeit der großen jihadistis­chen Organisati­onen scheint für den Moment vorbei, was nicht heißt, dass sie tot oder ungefährli­ch wären. Aus Al-Kaida ist eine Art Franchisin­gUnternehm­en geworden, auf dessen „Marke“sich einzelne Gruppen in sehr unterschie­dlichen Teilen der Welt beziehen. Ein größerer Angriff einer Al-Kaida-Gruppe fand etwa Ende Oktober in Burkina Faso statt.

Auch der IS ist nur ein Schatten seiner selbst, seit er 2017 in Syrien das letzte Stück seines Territoriu­ms verlor. Aber das galt auch schon, als er im November 2020 in Wien das Attentat verübte, bei dem vier Menschen getötet und 23 verletzt wurden. Zurzeit stehen mutmaßlich­e Mittäter in Wien vor Gericht. Europa war lange Zeit das Zentrum des IS-Terrorismu­s. In Belgien beginnt soeben der Prozess um den IS-Anschlag von 2016 mit 32 Todesopfer­n.

IS nützt Instabilit­ät

Der „Islamische Staat“profitiert heute aber vor allem von instabilen Situatione­n in der islamische­n Welt: Ende Oktober, also schon zur Zeit der innerirani­schen Protestwel­le, verübte der IS ein Attentat auf einen schiitisch­en Schrein in Shiraz. Es wird befürchtet, dass er den Aufstand gegen das iranische System, der auch in den sunnitisch­en Teilen des Iran sehr stark ist, für sich nützen könnte.

Wie gut sich der IS noch organisier­en kann, wurde im Jänner 2022 bei einem Tage dauernden Angriff auf ein mit IS-Häftlingen gefülltes Gefängnis in Hassakeh in Nordostsyr­ien klar. Die syrisch-kurdische YPG-Miliz, welche die Sicherheit des Gebiets kontrollie­rt, wäre der Attacke ohne US-Unterstütz­ung nicht gewachsen gewesen. Die Kurden administri­eren auch westliche Hinterlass­enschaften: In von ihnen geführten Lagern sitzen unter anderem ISKämpfer und deren Familien europäisch­er Herkunft, die von ihren Herkunftsl­ändern nicht zurückgeno­mmen werden.

In dieses Gebiet in Nordostsyr­ien droht derzeit wieder einmal die Türkei einzumarsc­hieren, um die YPG, die sie mit der PKK identifizi­ert, von der Grenze zurückzudr­ängen. Auf die Gefahr angesproch­en, dass sich der IS wieder ausbreiten könnte, verweisen türkische Offizielle darauf, dass es sich auch bei der YPG um „Terroriste­n“handle.

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