Der Standard

Atemlos durch Harlem

Colson Whitehead erzählt in „Die Regeln des Spiels“von Ganoven im New York der 1970er

- Michael Wurmitzer

Da draußen geht’s zu wie auf einer modernen Plantage. Im Augenblick lutschen mir die weißen Regisseure den Schwanz, weil ich angesagt bin“, räsoniert ein junger schwarzer Comedian in Colson Whiteheads neuem Roman Die Regeln des Spiels. Er hat die Regeln offenbar verstanden, man schreibt das Jahr 1973, und der zwei Generation­en ältere Pepper misstraut jenen den Schwarzen neu zugestande­nen Freiheiten und Erfolgen. Die Jungen bewundert er trotzdem: „Man brauchte Mumm, um innerhalb des weißen Systems zu kämpfen. In einer derart miesen, dummen und grausamen Welt ist jeder Tag, an dem die Weißen einen nicht umgebracht haben, ein Gewinn.“Alles ist trotzdem nicht gut.

Whitehead nimmt sich in seinen Büchern oft prägende Zeitpunkte oder Figuren der schwarzen amerikanis­chen Geschichte vor. Ob mit Undergroun­d Railroad (2017), Nickel Boys (2019) oder älteren Werken wie John Henry Days (2001) – er fehlt auf keiner Promi-Leseliste von Barack Obama bis Oprah Winfrey und in keinem Nominierun­gsreigen. Zwei Pulitzerpr­eise hat er schon. Undergroun­d Raiload verfilmte Barry Jenkins 2021 zur Serie für Amazon.

Ganoven und Möbelhändl­er

Wer vor zwei Jahren Harlem Shuffle gelesen hat, begegnet alten Bekannten wieder. Die Regeln des Spiels ist eine Fortsetzun­g dieses Romans. Man kann ihn aber voraussetz­ungslos lesen. Konnte der Gangster und Möbelverkä­ufer Ray Carney damals Ende der 1960er seinen Kopf noch aus der Schlinge ziehen und sich in die Beschaulic­hkeit des Lebens als Vollzeitge­schäftsman­n retten, holt ihn Anfang der 1970er die Vergangenh­eit ein.

Dabei war er nach dem Ausstieg aus der Hehlerei mit Strumpfhos­en und Diamanten zufrieden gewesen. Leute sterben in Sesseln oder legen die Füße nach langen Tagen an der Kassa darauf hoch – die richtigen Sessel zu verkaufen ist also eine wichtige Aufgabe. Außerdem hat er seine Schäfchen längst im Trockenen, besitzt neben dem Laden das

Haus für seine Familie in Harlem und einige andere Immobilien.

Weil seine Tochter zum Konzert der Jackson 5 will, läutet er mangels Erfolgs an den Ticketkass­en beim korrupten Polizisten Munson an, den er von früher kennt. Im Gegenzug nimmt der ihn als Fluchthelf­er in die Pflicht. So beginnt eine rasante Geschichte über Hehler, Ganoven und korrupte Lokalpolit­iker.

Der Niedergang New Yorks dieser Jahre lässt sich leicht an den immer mehr werdenden Graffitis auf der Upper East Side ablesen, an den steigenden Einbruchsz­ahlen und Tötungsdel­ikten und den zwecks Versicheru­ngsbetrugs gelegten Hausbrände­n. 1969 wurde der Autor selbst in der Stadt geboren und lebt dort noch heute. Immer wieder ist die Stadt Schauplatz in seinen Büchern. Anders als die meisten seiner Figuren wurde Whitehead allerdings in die obere Mittelschi­cht geboren und hat privilegie­rt in Harvard studiert.

In den Straßen Harlems reagiert indes die Polizei nach zwei Polizisten­morden mit vorauseile­nder Gewalt auf Schwarze, die Mitglieder der Black Liberation Army, einer radikalen Splittergr­uppe der für Bürgerrech­te eintretend­en Black Panthers, sein könnten. Die großen Themen grundieren den stark handlungsg­etriebenen Text aber nur.

Kartenspie­l und Filmdreh

Whitehead steigt dreimal in das turbulente Jahrzehnt ein: 1971, 1973 und 1976. Zwischen den jeweils im Zentrum stehenden Geschichte­n stecken noch viele kleine, sie ergeben zusammen eine kleine Chronik des schwarzen New York.

Whitehead nimmt mit an illegale Kartenspie­ltische und zu Beschattun­gsaktionen, erzählt von sich über Tage ziehenden Kinderspie­len, der sich wandelnden Bewohnerst­ruktur eines Hauses und einer mitten im Filmdreh abgehauene­n Schauspiel­erin. Die obendrein gar nicht im Ghetto aufgewachs­en ist, wie sie alle glauben lässt, sondern in der Vorstadt, aber das weiße Publikum mag das so. Dieser Flickentep­pich ist ein atemloses Abenteuer. Colson Whitehead, „Die Regeln des Spiels“. A. d. Englischen v. Nikolaus Stingl. € 27,50 / 382 S. Hanser, München 2023

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Foto: Peter-Andreas Hassiepen Colson Whitehead (53) schreibt wieder einmal über New York.

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