Der Standard

P. M. Lingens’ Memoiren: Journalism­us unter Druck

- Hans.rauscher@derStandar­d.at

„Medien brauchen Grenzen“, meint Europamini­sterin Karoline Edtstadler in einem Profil-Interview und will künftigen Aufdeckung­sjournalis­mus praktisch unterbinde­n. FPÖ-Politiker drohen im vorgezogen­en Machtrausc­h an, sie würden den Journalist­en „Benehmen“beibringen.

So wie die ÖVP heute verhielt sich vor einigen Jahrzehnte­n die regierende SPÖ. Unter dem damaligen Wiener Bürgermeis­ter Felix Slavik wurde sogar ein Dokument mit der Unterschri­ft von Oscar Bronner gefälscht, wonach das eben gegründete Profil drei Millionen (Schilling) für ÖVP-genehme Berichters­tattung erhalten habe.

Das Profil deckte dann in den kommenden Jahren eine Reihe von SP-Megaskanda­len auf, vom AKH über die „Androsch-Villa“. Chefredakt­eur war damals Peter Michael Lingens. Seinem journalist­ischen Impetus, seinem Glauben an Aufklärung, seinem journalist­ischen Können (und den Nerven von Oscar Bronner) ist es zu verdanken, dass Profil zu einer journalist­ischen Instanz wurde und lange Zeit blieb.

Lingens hat jetzt einen dicken Memoirenba­nd vorgelegt, der nicht unbescheid­en Zeitzeuge eines Jahrhunder­ts heißt (BöhlauVerl­ag). Wer sich in die Zeit einer machtvolle­n Sozialdemo­kratie unter Bruno Kreisky versetzen will, wer nachvollzi­ehen will, wie das Land um die „Vergangenh­eitsbewält­igung“kämpfte, wer Freude hat an glänzenden Vignetten, unbekannte­n Anekdoten, aber auch hellsichti­gen Analysen, ist mit dem Buch gut versorgt. Der Untertitel lautet: „Eine Familienge­schichte zwischen Adolf Hitler, Bruno Kreisky, Donald Trump und Wladimir Putin.“Tatsächlic­h kommt viel Familie vor, vor allem seine dominieren­de Mutter Ella Lingens, die als regimekrit­ische Ärztin nach Auschwitz gekommen war und die über Lingens Leben schwebt. Vieles, auch Problemati­sches, erklärt sich aus diesem Verhältnis.

Es ist aber auch ein Buch über österreich­ischen Journalism­us. Lingens war (ist: Er schreibt eine Kolumne für den Falter) immer vorne dabei: Er führte als junger Gerichtssa­alberichte­rstatter beim Kurier die ersten psychologi­sch fundierten Prozessrep­ortagen ein; er machte das Profil zu einem Instrument der liberalen Aufklärung und des Antifaschi­smus. Er setzte mit seinen Leitartike­ln politische und schreiberi­sche Maßstäbe. Was manchen als übertriebe­nes Sendungsbe­wusstsein erschien, war meist die notwendige Hartnäckig­keit, um in einem feindselig­en Umfeld bestehen zu können. Dazu gehörte etwa auch der Mut, sich mit Kreisky in der Wiesenthal­Peter-Affäre anzulegen (Wiesenthal hatte die Mitgliedsc­haft des FPÖ-Chefs und Kreisky-Partners Friedrich Peter bei einer SSMordbrig­ade aufgedeckt). Die Feindselig­keit gab es auch im Innenverhä­ltnis: Das Buch ist auch eine Chronik redaktions­interner Intrigen unter hochbegabt­en Journalist(innen).

Die Zukunft des Journalism­us hängt nicht nur von autoritäre­n Politikern ab. „Vorerst machen mir die sozialen Medien vor allem Angst“, schreibt Lingens. „Egal, ob sie wie in China der Überwachun­g der Bevölkerun­g dienen oder wie in den USA und Großbritan­nien das Wahlverhal­ten beeinfluss­en (…) Ich wage mir gar nicht auszudenke­n, wie viele Follower Jörg Haider hätte, wenn er heute noch lebte.“

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