Der Standard

Das vergiftete Geschenk

Die Idee, Mietern von Sozialwohn­ungen den Weg zum Eigentum zu bahnen, wird immer wieder vorgebrach­t. Das 1980 von Margaret Thatchers Regierung beschlosse­ne Right-to-Buy-Gesetz zeigt, welche Folgen eine solche Idee haben kann.

- Maik Novotny

Aufrecht wie eine Soldatin, starr wie Porzellan, die Hand fotogen an eine offensicht­lich leere Teetasse gelegt, saß die Premiermin­isterin in der bunt tapezierte­n Küche von James und Maureen Patterson. Seit 18 Jahren bewohnte das Paar mit seinen drei Kindern das Haus in Harold Hill im Osten von London. Margaret Thatcher, seit etwas mehr als einem Jahr im Amt, hatte ihnen ein Geschenk mitgebrach­t: ein Gesetz namens 1980 Housing Act, besser bekannt als „Right to Buy“. Es erlaubte den Pattersons, ihre Kommunalwo­hnung mit 40 Prozent Rabatt für 8315 Pfund (heute rund 52.000 Euro) zu erwerben. Sie waren nicht die Einzigen. Zwei Jahre später wurden 167.000 Häuser und Wohnungen privatisie­rt, während Thatchers Amtszeit waren es rund 1,5 Millionen.

Right to Buy sollte aus Thatchers Sicht ein voller Erfolg werden, und es war alles andere als eine spontane Idee. Schon 1946 hatte der spätere Premiermin­ister Anthony Eden seine Tories auf das Ziel einer „property-owning democracy“eingeschwo­ren, und selbst sein LabourRiva­le James Callaghan räumte ein, dass das Wohneigent­um ein ureigener Wunsch der meisten Menschen sei. Gleichzeit­ig sank die Zahl neuer Sozialwohn­ungen rapide. Waren es zwischen 1975 und 1980 noch 627.830, waren es in den ersten fünf Thatcher-Jahre nur 215.580, gegen Ende der 1980er-Jahre schrumpfte die Zahl praktisch auf null.

Bus nach Birmingham

Rund 40 Jahre nach der Teetassenb­egegnung in der Küche der Pattersons. Stratford High Street, im Osten Londons, unweit des Olympiagel­ändes. In diesem früher unattrakti­ven Viertel hat die Stadtentwi­cklung den Turbo eingeschal­tet, die Kräne drehen sich um neue Hochhäuser. Wie jeden Samstag stehen die Frauen von Focus E15 an ihrem Infostand. Die Aktivistin­nen haben sich 2013 zusammenge­schlossen, als 29 alleinerzi­ehende Mütter aus einem Wohnheim mit der Aufforderu­ng delogiert wurden, sich ein Zuhause in Städten zu suchen, die hunderte Kilometer entfernt sind und in denen sie niemanden kennen. Als die alleinerzi­ehende Sara Abdullah 2018 dagegen protestier­te, sich mit ihrem kleinen Sohn in einen Bus nach Birmingham zu setzen, wurde sie als „absichtlic­h wohnungslo­s“deklariert und ihr die Wohnbeihil­fe gestrichen. Es gebe zu wenig leistbares Wohnen in London, so eine Sprecherin der Behörde, da könne man eben nichts machen. Sie hatte leider nicht unrecht. Im Jahr 2023 fanden sich in London 323.827 Haushalte auf der Warteliste für eine Sozialwohn­ung, die Obdachlosi­gkeit steigt seit Jahren an.

Was eher wie eine düstere Szene aus einem viktoriani­schen CharlesDic­kens-Roman als nach dem 21. Jahrhunder­t klingt, ist eine der vielen Folgen von Right to Buy. Zwar wurde die Idee, kommunales Wohnen in privates zu wandeln, in vielen Staaten umgesetzt und zuletzt vorige Woche von Österreich­s Bundeskanz­ler Karl Nehammer (ÖVP) wieder einmal ins Programm genommen, doch auf der Insel ging man am radikalste­n vor. Hier lassen sich auch die Folgen am deutlichst­en ablesen.

Vermieter profitiere­n

Fragen wir also zuerst: Wer profitiert davon? Antwort: nicht wenige, aber nicht alle. Schon 1988 wies eine Studie der Regierung nach, dass vor allem die Mittelklas­se-Familien vom Kaufrecht Gebrauch gemacht hatte. Alleinerzi­ehende, Alleinsteh­ende, Jüngere und Arbeitslos­e blieben außen vor. Am meisten profitiere­n jedoch die Vermieter, denen heute 40 Prozent der Rightto-Buy-Wohnungen gehören, mit Mieten, die mehr als doppelt so hoch sind wie jene in kommunalen Wohnungen.

Wer davon nicht profitiert­e: Das waren zum einen die Kommunen, die ihren Wohnbestan­d unter Wert verkauften und denen eines weiteren Thatcher-Gesetzes von 1980 wegen das Schuldenma­chen für neue Wohnbauinv­estitionen verboten war. Auch die Steuerzahl­er, von deren Geld die Sozialwohn­ungen errichtet wurden, stiegen schlecht aus: Vom Verkauf hatten sie nichts, dafür zahlten sie nicht nur den Right-to-Buy-Rabatt, sondern auch die Wohnbeihil­fe für jene, die sich das Wohnen allein nicht leisten können, heute rund ein Viertel aller Mieter im Land. Nach Schätzunge­n beträgt der Verlust für die öffentlich­e Hand seit 1980 rund 75 Milliarden Pfund, während die Wohnbeihil­fen letztlich in den Taschen der Vermieteri­nnen landen.

Politisch ging das Ziel der Konservati­ven, mit ihrem verführeri­schen Geschenk die Arbeiter- und untere Mittelklas­se zu spalten und die Wohneigent­ümer zu Tory-Wählern zu machen, auf. Diese Spaltung spürt man bis heute in den Wohnbauten: jene, die für Käufer attraktiv waren, und jene, in denen die Ärmeren verblieben. Letztlich führte Right to Buy zu einer Stigmatisi­erung des sozialen Wohnbaus an sich, denn wer sich kein Eigentum leisten konnte, musste schließlic­h ein Verlierer sein. Noch Thatchers Nachfolger David Cameron sprach 2016 verächtlic­h von den „sink estates“und meinte damit nicht nur die „herunterge­kommenen Betontürme“, sondern implizit auch deren Bewohnerin­nen und Bewohner.

Wenig Gutes

Dabei hatte das Vereinigte Königreich in den 1960er- und 1970er-Jahren Wohnbauten von hervorrage­nder Qualität realisiert, die zu den besten in Europa gehörten. Einer davon ist das in helle Ziegel gekleidete Dawson’s Heights, das seit 1972 auf einem Hügel in Südlondon thront. Entworfen wurde es von der jungen Architekti­n Kate Macintosh, die sich auch heute noch im Alter von 86 Jahren hochaktiv in Diskussion­en über Wohnbaupol­itik einmischt. Sie hat wenig Gutes über Right to Buy zu sagen: „Es hätte funktionie­ren können, wenn man eine Obergrenze festgelegt hätte, aber das hat man nicht. Die Folgen waren katastroph­al. Der günstige Kaufpreis wurde direkt aus öffentlich­en Geldern finanziert und die Wohnungen nach und nach von immer größeren Vermietern aufgeschna­ppt, nicht selten Parlaments­abgeordnet­en oder deren Verwandten. Es ist ein direkter Transfer von öffentlich­em Reichtum in private Hände. Man könnte es Diebstahl nennen.“

Und die Pattersons? Sie hatten nicht viel Glück mit ihrem Eigenheim. Das Ehepaar ließ sich scheiden, Mrs. Patterson konnte sich angesichts steigender Zinsen die Hypothek nicht leisten und zog in einen Wohnwagen und sagte: „Hätte ich das vorhersehe­n können, hätte ich nie von Right to Buy Gebrauch gemacht.“Alle späteren Eigentümer dagegen profitiert­en vom Wertzuwach­s, 2013 wurde das Haus für das 20-Fache seines Preises von 1980 weiterverk­auft. Wie hatte es Margaret Thatcher damals angekündig­t: „Die Wirtschaft ist die Methode, aber das Ziel ist es, die Seele zu verändern.“

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Foto: Keystone / Hulton Archive / Getty Images Hausbesuch mit Folgen: Premiermin­isterin Margaret Thatcher bringt Familie Patterson aus London im August 1980 ein neues Gesetz mit.

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