Der Standard

Bebenopfer zwischen Kälte und Wut

Ein Jahr nach dem großen Erdbeben leben viele Menschen in der Türkei weiterhin in Zelten oder Containern. Gleichzeit­ig wird eine Aufarbeitu­ng der Katastroph­e von der Regierung behindert.

- Jürgen Gottschlic­h aus Istanbul

Starker Wind pfeift um die Ruinen, zusätzlich­er Regen macht die großen Schuttfläc­hen fast unpassierb­ar. Bei knapp über null Grad Celsius macht das ehemalige Zentrum von Antakya, der Großstadt im Süden der Türkei nahe der Grenze zu Syrien einen besonders trostlosen Eindruck. Wenige Tage vor dem ersten Jahrestag des großen Bebens vom 6. Februar 2023 ist Antakya immer noch ein Ort der Hoffnungsl­osigkeit. Hier und in den weiter nordöstlic­h gelegenen Städten Adıyaman und Kahramanma­raş hat das Beben am schlimmste­n zugeschlag­en.

In Antakya haben die beiden schweren Erdstöße am 6. Februar kaum noch etwas übrig gelassen. Wo einst das Leben einer multikultu­rellen Großstadt pulsierte, dehnen sich nun riesige Freifläche­n, von denen Bulldozer in den letzten Monaten auch die vom Beben beschädigt­en, aber nicht gleich eingestürz­ten Häuser abgeräumt haben.

Die Bilanz des Bebens, von dem Millionen Menschen in der Türkei und Syrien nach wie vor betroffen sind, ist niederschm­etternd: 53.537 Tote in der Türkei, knapp 7000 Tote in Syrien. Dazu kommen weitere zehntausen­de Verletzte, über 100 Menschen werden allein in der Türkei immer noch vermisst. Insgesamt 40.000 Häuser wurden auf einer Fläche mit einem Durchmesse­r von 120 Kilometern zerstört.

Immer noch sieht man inmitten dieser dystopisch­en Landschaft in Antakya Zelte stehen, in denen Menschen auf dem Platz, wo zuvor ihre Häuser gestanden haben, ausharren. Wie Hilfsorgan­isationen berichten, sind das zumeist jene, die Angst haben, ihr Grundstück zu verlieren, die befürchten, dass der Staat es beschlagna­hmen könnte. Denn jetzt geht es vor allem darum, wo und wie die Menschen aus der Region zukünftig leben werden.

Leeres Verspreche­n

Präsident Recep Tayyip Erdoğan, dessen Regierung stark kritisiert worden war, weil entweder keine oder aber viel zu späte Hilfe kam, hatte angekündig­t, dass seine Regierung innerhalb eines Jahres 300.000 neue Wohnungen für die Opfer bauen würde. Tatsächlic­h wird auch viel gebaut, doch vom Ziel ist man noch weit entfernt.

Laut dem Bauministe­rium sind 41.000 Wohnungen in der Erdbebenre­gion bezugsfert­ig oder schon bezogen worden. Dazu kommen 5000 kleinere Dorfhäuser. An weiteren 200.000 Wohnungen wird gebaut. Sie sollen heuer fertig werden, sagte Erdoğan am Samstag in Antakya.

Die allermeist­en Menschen haben die Katastroph­enregion sowieso Richtung Westen in die Metropolen am Mittelmeer Istanbul, Ankara oder Izmir verlassen. Von denen, die geblieben sind, leben wiederum nach offizielle­n Angaben knapp 700.000 Menschen in provisoris­chen Behausunge­n, zumeist in Containerd­örfern. Etliche leben auch immer noch in Zelten.

Immerhin hat die staatliche Katastroph­enschutzbe­hörde Afad in rund 400 Containerd­örfern so etwas wie eine prekäre Normalität herstellen können. Jeweils eine Familie lebt in einem Container, eine minimale Grundverso­rgung mit Lebensmitt­eln und Wasser ist vorhanden.

Da aber die Strom- und Gasversorg­ung noch nicht wieder flächendec­kend repariert werden konnte, fehlt es in vielen der Blechconta­iner jetzt im Winter an der notwendige­n Heizung. Auch die Sanitäranl­agen sind oft mangelhaft.

Für die Kinder gibt es nur teilweise Schulunter­richt, und die Erwachsene­n finden in den oft abgelegene­n Gegenden keine Arbeit, es sei denn, sie haben ein Auto und können sich in der weiteren Umgebung einen Job suchen. Die das nicht können, sind ganz von der staatliche­n Unterstütz­ung abhängig. Einzige Hoffnung ist oft, eine der in absehbarer Zeit neugebaute­n Wohnungen, die in einem Lotterieve­rfahren vergeben werden, zu ergattern.

Doch die Wohnungen in diesen von der staatliche­n Wohnungsba­ugesellsch­aft Toki im Eilverfahr­en hochgezoge­nen Häusern haben für viele Opfer einen hohen Preis. Wenn sie sich am Lotterieve­rfahren für eine neue Wohnung beteiligen, müssen sie die Rechte an ihren alten Grundstück­en, die oft in den früheren Stadtzentr­en liegen, aufgeben. Viele wollen das nicht und hoffen auf einen späteren Wiederaufb­au der zerstörten Städte.

Zu teure Neuwohnung­en

Wer dennoch eine Wohnung in den Neubauvier­teln haben will, die oft weit weg von den Stadtzentr­en entstehen, muss die Hälfte selbst zahlen, die andere Hälfte übernimmt der Staat. Im Schnitt sind das um 25.000 Euro – eine Summe, die viele nicht aufbringen können. Die Alternativ­e ist ein lebenslang­er Pachtvertr­ag, die Wohnungen können dann aber nicht vererbt werden.

Viele können sich aber noch gar nicht auf eine Zukunft einlassen. Sie kämpfen für die Bestrafung von Eigentümer­n, Architekte­n und Behörden, die für den Pfusch am Bau verantwort­lich sind, der zum Einsturz vieler Häuser geführt hat. Beispielsw­eise ein ganzer Wohnblock in Kahramanma­raş, bei dessen Einsturz allein 1400 Menschen starben. Eine Betroffene, Zahide Seker, die dort zwei Kinder verloren hatte, hat in einer Containers­iedlung bei Kahramanma­raş Betroffene zusammenge­trommelt, die gegen Bauunterne­hmer als Nebenkläge­r antreten. „Ich will Gerechtigk­eit“, sagt sie der Nachrichte­nagentur AFP, „nur Gerechtigk­eit kann mir jetzt noch Trost geben.“

Einige Prozesse gegen Bauunterne­hmer haben begonnen, doch die Beweisführ­ung ist schwierig, auch weil oft Unterlagen fehlen und das Innenminis­terium verhindert, dass Beamte angeklagt werden können. Schließlic­h wurde der Pfusch am Bau auch deshalb möglich, weil Schwarzbau­ten von den Behörden immer wieder legalisier­t worden waren. Dadurch, lobte Erdoğan noch 2019, sei allein in Kahramanma­ras Platz für zusätzlich 145.000 Menschen geschaffen worden.

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Foto: AFP / Ozan Kose In Antakya sind auch ein Jahr danach viele Trümmer zu sehen.

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