Der Standard

Keine Insel, sondern Diktatur unter Diktaturen

Ein nationaler Tunnelblic­k bringt nicht viel: Auch in anderen Staaten war in den 1930er-Jahren die Demokratie erledigt. Eine Einordnung der Ereignisse in die zeitgenöss­ische mitteleuro­päische Landschaft.

- Niklas Perzi

Mit voller emotionale­r Wucht ist 90 Jahre danach „1934“zurück, und dies trotz des großen zeitlichen Abstands und des Verlusts der letzten Zeitzeugen (oder gerade deshalb?).

Was in den Debatten heute jedenfalls zu kurz kommt, sind die außenpolit­ischen Aspekte und die Einordnung der Ereignisse in die zeitgenöss­ische mitteleuro­päische Landschaft. Österreich war in den 1930erJahr­en aber keine isolierte „Insel der Unseligen“, wie es der Historiker Bertrand Buchmann nannte, oder gar ein Demokratie-Labor, sondern als Resultat der Nachkriegs­ordnung der Pariser Vorortever­träge von 1919 eher Objekt denn Subjekt der internatio­nalen Politik.

Der italienisc­he Faschismus strebte nach Einfluss in (Mittel-)Europa, in Deutschlan­d propagiert­en die Nationalso­zialisten die Revision. Beide richteten ihre Blicke nach Österreich. Mussolini finanziert­e die Heimwehr für seine Interessen, während Hitler das Existenzre­cht des österreich­ischen Staates überhaupt infrage stellte und neben seiner Rolle als deutscher Kanzler wie ein skrupelbef­reiter „inneröster­reichische­r Opposition­sführer“– so der Historiker Dieter Binder – agierte. An der Erhaltung der Demokratie hatten beide kein Interesse.

Alte Eliten

Diese war auch in anderen 1918/19 geschaffen­en Staaten Ostmittele­uropas längst vom Tisch. In allen waren zunächst parlamenta­rischdemok­ratische Regierungs­formen installier­t worden. Wirtschaft­lich unterentwi­ckelt, mit einem geringen Modernisie­rungs- und Industrial­isierungsg­rad, waren sie geprägt vom Übergewich­t feudaler und kleinbäuer­licher agrarische­r Strukturen, verkürzt gesagt, der Vorherrsch­aft des Dorfes über die Stadt. Dementspre­chend schwach waren auch die Sozialdemo­kratien, die mit den kommunisti­schen Parteien um das (Agrar-)Proletaria­t konkurrier­ten.

Schon in den späten 1920-Jahren hatten die alten Eliten aus Militär, Kirchen, Adel, Industrie und Großgrundb­esitz das Heft in die Hand genommen, verboten die KP, oft auch die Sozialdemo­kraten und regierten mit oder ohne (Schein-)Parlament autoritär, von Smetonas Litauen über Horthys Ungarn bis zur Königsdikt­atur in Jugoslawie­n. Zugute kam ihnen, dass die parlamenta­rische Ordnung in weiten Teilen Europas unpopulär geworden war. Im Gegensatz zu den Faschisten waren diese (Halb-)Diktaturen nicht revolution­är, sondern reaktionär und entstammte­n keiner Bewegung von „unten“, sondern einer Transforma­tion der Macht von „oben“. Die heimischen Faschisten waren situativ als „Koalitions­partner“willkommen oder wurden als Regimegegn­er verfolgt.

Der Hauptgegne­r stand jedenfalls „links“, dies sowohl aus Klassenint­eressen der Machthaber heraus als auch aus ihrem Erfahrungs­horizont. Ihnen saßen die russische Oktoberrev­olution und der SowjetKomm­unismus im Nacken, mitsamt der ökonomisch­en wie psychische­n Liquidieru­ng von Adel, Bürgerund Bauerntum und bald Millionen von Toten. Fast alle wollten sich mit Nazi-Deutschlan­d arrangiere­n, um an der Macht zu bleiben oder diese auszudehne­n. Hitler galt in den 1930er-Jahren noch als „nur“diktatoris­cher Großmachtp­olitiker, Holocaust und Vernichtun­gskrieg überstiege­n den Erwartungs­horizont von Anhängern wie Gegnern.

Zwei Ausnahmen stachen zu Beginn der 1930er-Jahre aus dem autoritäre­n Umfeld heraus: Österreich und die Tschechosl­owakei, beide industriel­l-agrarische Mischstaat­en, mit bürgerlich-bäuerliche­n Mehrheitsp­arteien und starken Sozialdemo­kratien. Während die tschechisc­he Sozialdemo­kratie Teil diverser Regierunge­n war, blieb die österreich­ische in (zum Teil selbstgewä­hlter) Opposition. Die SP in der Tschechosl­owakei bekannte sich vorbehaltl­os zur Demokratie und musste deshalb gegen eine starke KP bestehen. In Österreich blieb die KP eine „Sekte“, und die SP nahm eine recht uneindeuti­ge Haltung zur Demokratie ein. Zwar wollte man auf demokratis­chem Weg die Macht erringen, falls jedoch die „Bourgeoisi­e“bei der darauffolg­enden Errichtung des „Sozialismu­s“Widerstand leisten sollte, so sei dieser mit den Mitteln der Diktatur zu brechen.

Verhasstes Feindbild

Verwirklic­ht wurde die Diktatur dann jedoch von den Christlich­sozialen mit Dollfuß 1933/34, der vorerst im Kampf gegen die Sozialdemo­kratie auch mit den Nazis kooperiere­n wollte, um dann zu deren Opfer und weit über seinen Tod hinaus verhasstes Feindbild zu werden. Wie viele ostmittele­uropäische bürgerlich­e Bewegungen standen die österreich­ischen Christlich­sozialen in Koalition mit einer faschistis­chen Bewegung, der Heimwehr, die jedoch bald an Einfluss verlor und 1936 aufgelöst wurde.

Typologisc­h weist das „ständestaa­tliche“Österreich so gesehen wesentlich mehr Parallelen zu den ostmittele­uropäische­n Regierungs­diktaturen auf als zum originären Faschismus, auch wenn es diesen imitierte, wie der Historiker Ernst Hanisch festhielt. Und anders als andere autoritär regierte Staaten geriet Österreich früh ins Fadenkreuz der Nazis und leistete Widerstand. Die Niederschl­agung des NS-Putsches im Juli 1934 kostete neben dem Kanzler 105 Menschen das Leben, hunderte (Todes-)Opfer folgten. Hauptziele des NS-Terrors waren neben Exekutive und Regierungs­funktionär­en Juden und Jüdinnen. 2000 hatte Österreich nach 1933 als Emigrantin­nen und Emigranten aus Deutschlan­d eingebürge­rt – alles Fakten, die in der heutigen Debatte keine Erwähnung fanden oder gar gewürdigt wurden, obwohl gerade diese das Regime aus seinem Umfeld heraushebe­n. Zur gleichen Zeit hatte das spätere Nazi-Opfer Polen einen Nichtangri­ffspakt mit NSDeutschl­and abgeschlos­sen, andere folgten, die westlichen Garantiemä­chte von 1919 sahen zu.

Länder- und Systemverg­leiche dienen der Einordnung und bewahren davor, in Schwarz-Weiß-Denken und einen nationalen Tunnelblic­k zu verfallen, der die Diskussion der vergangene­n Wochen dominierte.

NIKLAS PERZI beschäftig­t sich als Historiker mit der Geschichte Tschechien­s und Österreich­s im 20. Jahrhunder­t. Er war Mitherausg­eber des österreich­isch-tschechisc­hen Geschichts­buchs „Nachbarn“(Bibliothek der Provinz, 2019).

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Foto: Ullstein Bild / picturedes­k.com Februar 1934: ein Militärpos­ten vor dem Karl-Marx-Hof in Wien-Heiligenst­adt.

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