Der Standard

Viel zu späte literarisc­he Gerechtigk­eit

„Fone Kwas oder Der Idiot“ist ein wieder aufgetauch­tes, wichtiges Manuskript über stalinisti­schen Terror.

- Bert Rebhandl

In dem derben Volkslied von der Hobelbank findet sich auch eine Zeile, die ein geläufiges Vorurteil über die Hüter des Gesetzes enthält: „Polizei – Depp dabei“. Darin äußert sich das Wissen darum, dass nicht alle Raketenwis­senschafte­r sein müssen, die dafür sorgen, dass wir uns im Alltag meistens sicher fühlen dürfen.

Wenn es kritisch wird, schadet Intelligen­z aber auch bei der Polizei nicht. Sie sollte am besten eine ähnliche Streuung aufweisen wie die Gesellscha­ft insgesamt. In der Sowjetunio­n im Jahr 1937 hatte die Frage, wie viele Deppen oder Volltrotte­l oder Idioten bei der Polizei waren, einen gravierend­en Aspekt. Denn die Polizei hatte damals sehr viel zu tun – vor allem die Geheimpoli­zei, die dafür sorgte, dass die Parteidikt­atur unter Stalin jeden Widerstand schon brach, bevor er überhaupt bemerkbar werden konnte – übrigens auch für all die Saboteure, Faschisten und Diversante­n, die damals verhaftet wurden, ohne auch nur im Geringsten zu begreifen, was sie angestellt haben sollten.

Der Wahnsinn dieser Jahre

Wir wissen inzwischen sehr viel über den Wahnsinn dieser Jahre des Terrors, als sich im NKWD (dem späteren KGB) eine junge Elite hervortat, die oft keine andere Qualifikat­ion hatte, als dass sie dem entfesselt­en Stalinismu­s als Ja-Sager diente. In der Literatur ist diese Zeit vielfach eingegange­n, am bekanntest­en sind die Chronisten der sowjetisch­en Straflager, Alexander Solscheniz­yn und Warlam Schalamow. Aber auch Victor Serge (Die große Ernüchteru­ng) ist dazu enorm lesenswert.

Nun taucht noch ein großer Name in diesem Zusammenha­ng auf: Georgi Demidow war auch Opfer des großen Terrors, er hat die Lager am Polarkreis (er sprach von „Auschwitz ohne Öfen“) gegen jede Wahrschein­lichkeit überlebt. Im Jahr 1964 schrieb er die Erzählung (oder den schmalen Roman) Fone Kwas oder Der Idiot, in dem er auf paradigmat­isch verdichtet­e Weise beschrieb, was geschah, nachdem jemand vom NKWD abgeholt wurde. In diesem Fall ein Ingenieur namens Rafail Lwowitsch Belokrinit­skij. Seine Frau tröstet ihn noch: Es wird sich um ein Versehen handeln, das wird sich noch herausstel­len, das System wird seinen Fehler bemerken. Das System aber ist so aufgebaut, dass dem Einzelnen immer die Idiotenrol­le zufällt. Ein gescheiter Mann wie Belokrinit­skij bemerkt das nicht gleich, denn er sieht sich ja unbedarfte­n Leuten gegenüber, die nicht einmal einen ordentlich­en Vorwurf gegen ihn formuliere­n können – er muss seine Bezichtigu­ng (wie es damals tatsächlic­h oft der Fall war) selbst schreiben und macht daraus ein Stück satirische­r Prosa über zerstöreri­sche Eingriffe in die Stromverso­rgung, wird damit aber vollständi­g ernst genommen.

Belokrinit­skij hofft, er hätte eine „Mine“im System des Stalinismu­s versteckt, die irgendwann später explodiere­n könnte. Letztlich ist dieser formidable Text über Folter und Entwürdigu­ng selbst diese Mine. So richtig zur Explosion kam sie nie, denn dann hätte sie Breschnew oder spätestens Putin hinwegfege­n müssen. Die Veröffentl­ichung auf Deutsch sorgt nun wenigstens für ein bisschen literarisc­he Gerechtigk­eit.

 ?? ?? Georgi Demidow, „Fone Kwas oder Der Idiot“. € 23,50 / 208 Seiten. Übersetzt von I. Rstorgueva, T. Martin. Galiani, Berlin 2023
Georgi Demidow, „Fone Kwas oder Der Idiot“. € 23,50 / 208 Seiten. Übersetzt von I. Rstorgueva, T. Martin. Galiani, Berlin 2023

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