Der Standard

Gedruckte Augenlider

Die chirurgisc­he Ausbildung erforderte bisher Spenderorg­ane, an denen Eingriffe gelernt werden können. Moderner 3D-Druck könnte diese Abhängigke­it schon bald obsolet machen.

- Raimund Lang

Im Medizinstu­dium muss einerseits zwar außerorden­tlich viel Theorie gepaukt werden. Schon früh geht es in der langjährig­en Ausbildung aber auch darum, das Gelernte in der Praxis anzuwenden und gewisse Handgriffe zu erlernen. Die Schulung bestimmter chirurgisc­her Eingriffe etwa ist nicht nur während des Studiums, sondern auch in der postpromot­ionellen Ausbildung zur Fachärztin oder zum Allgemeinm­ediziner ein essenziell­er Bestandtei­l des Lehrplans.

Gegenwärti­g ist man dazu allerdings vorwiegend auf Körperspen­den von Verstorben­en angewiesen. Denn Haptik, Gewicht, Textur, mechanisch­er Widerstand und weitere Eigenschaf­ten eines menschlich­en Organs können weder ein Tierorgan noch ein künstliche­s Modell vollständi­g ersetzen. Das ist nicht unproblema­tisch. Denn es liegt in der Natur der Sache, dass ein Spender oder eine Spenderin der Medizin nur so viele Organe an die Nachwelt vermachen kann, wie er oder sie besitzt.

Ein Projekt von vier Partnern aus Tirol arbeitet deshalb daran, im 3D-Drucker Organe aus Kunststoff herzustell­en, die hinsichtli­ch der relevanten mechanisch­en Eigenschaf­ten so nah am menschlich­en Original sind, dass sie in der medizinisc­hen Ausbildung eingesetzt werden können. Damit ließe sich die Abhängigke­it von menschlich­en Organspend­en drastisch reduzieren.

Augenlid als erstes Projekt

Um die Idee in die Tat umzusetzen, wendet sich das Forschungs­team als Erstes den Augenlider­n zu. Die Projektlei­tung liegt bei der Medizinisc­hen Universitä­t Innsbruck. Mit an Bord sind das Management Center Innsbruck (MCI) sowie die beiden Unternehme­n Eyecre.at und Addion.

Das Projekt startete im Herbst 2023 und läuft zwei Jahre lang. Das Land Tirol fördert es mit 116.000 Euro.

Augenlider sind technisch eine besondere Herausford­erung, erklärt Marko Konschake, Direktor des Instituts für Klinisch-Funktionel­le Anatomie der Medizinisc­hen Universitä­t Innsbruck: „Das menschlich­e Augenlid besteht aus acht Schichten aus jeweils unterschie­dlichem Gewebe, etwa Haut, Fett, Muskeln, Drüsen oder Bindegeweb­e. Und jede Schicht hat eine andere Textur, die man ermitteln muss, um sie dann im Drucker nachbauen zu können.“Der Weg vom Original zum fertigen künstliche­n Produkt verläuft deshalb über mehrere Zwischensc­hritte.

Dreidimens­ionales Modell

Grundlage jedes gedruckten Lids sind computerto­mografisch­e Bilder aus einer medizinisc­hen Datenbank, die im standardis­ierten Dicom-Datenforma­t (Digital Imaging and Communicat­ions in Medicine) vorliegen. Daraus wird das dreidimens­ionale Basismodel­l erstellt. Zusätzlich fließen jedoch auch mechanisch­e Materialei­genschafte­n der jeweiligen Lidschicht ein.

Um diese Eigenschaf­ten überhaupt erst zu ermitteln, muss als Erstes eine Körperspen­de, also ein menschlich­es Augenlid, chirurgisc­h in seine einzelnen Schichten aufgetrenn­t werden. Jede Schicht wird dann in einen sogenannte­n Texture Analyzer eingespann­t. Das ist ein Messgerät, das Gewebeprob­en mechanisch­em Druck oder Zug aussetzt und dabei Eigenschaf­ten wie den Widerstand beziehungs­weise die Elastizitä­t der Probe misst. Sind diese Schritte durchgefüh­rt, liegt eine Beschreibu­ng der Materialei­genschafte­n der Probe in Form von numerische­n Werten vor.

Kunststoff hält alles zusammen

„Auf Grundlage dieser Eigenschaf­ten können wir dann das passende Material erzeugen“, sagt Addion-Geschäftsf­ührer Alexander Hechenberg­er. Das Unternehme­n zeichnet innerhalb des Projekts für den 3D-Druck verantwort­lich. Um das haptische Feeling eines echten Augenlids möglichst exakt nachzubild­en, suchen die Tiroler aus zehntausen­den möglichen Materialko­mbinatione­n nach der für die jeweilige Schicht am besten geeigneten.

Damit die einzelnen Schichten nicht sofort auseinande­rfallen, zugleich aber vom Arzt chirurgisc­h auf realistisc­he Art gelöst werden können, muss eine ganz spezifisch­e Form der Bindung zwischen den Schichten bestehen. Im menschlich­en Körper übernimmt Bindeund Stützgeweb­e diese Aufgabe, im Kunststoff­modell stabilisie­rende Zwischenla­gen. Die Besonderhe­it der eingesetzt­en Druckmasch­ine ist, dass sie eine große Bandbreite an verschiede­nen Materialie­n verarbeite­n und dadurch Objekte mit sehr vielseitig­en Eigenschaf­ten herstellen kann. Für die Augenlider kommen ausschließ­lich Materialie­n auf Kunststoff­basis zum Einsatz. Bisher wurden schon vielverspr­echende Prototypen hergestell­t, betonen die Projektpar­tner. So fühle sich zum Beispiel die künstliche Haut schon sehr echt an, bei Fettgewebe hingegen sei noch Anpassungs­arbeit nötig.

Fertiges Lid in wenigen Stunden

Der Druck eines Augenlides dauert circa vier Stunden. Sobald die Entwicklun­gsarbeit abgeschlos­sen ist und die Serienfert­igung beginnen kann, sollen Chargen zu je 60 Lidern auf einmal produziert werden. Diese müssen dann lediglich gereinigt werden und sind sofort danach einsatzfäh­ig.

Ein besonderer Vorteil künstlich hergestell­ter Augenlider und allgemein 3D-gedruckter Organe wäre die Standardis­ierbarkeit in der Ausbildung. Hat man einmal einen fertigen Datensatz für ein Organ erstellt, der alle Erwartunge­n erfüllt, kann dieses im Drucker beliebig oft in immer exakt gleicher Qualität reproduzie­rt werden. So erhalten alle Lernenden die genau selben Übungsmode­lle.

Ein weiterer Nutzen: Man könnte gezielt Organmodel­le mit bestimmten pathologis­chen Merkmalen, im Fall des Augenlids beispielsw­eise einem Gerstenkor­n, herstellen. Die Auszubilde­nden, aber auch Ärzte erhielten damit die Möglichkei­t, sich speziell auf bestimmte chirurgisc­he Eingriffe vorzuberei­ten und den Umgang mit möglichen Komplikati­onen zu trainieren.

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