Der Standard

Tanz auf dem Vulkan

Das Wiener LeopoldMus­eum widmet sich erstmals in Österreich umfassend der Neuen Sachlichke­it. Die Ausstellun­g „Glanz und Elend“erzählt eine sehr heutige Kulturgesc­hichte der Zwischenkr­iegszeit.

- Stefan Weiss

Wenn die Zeiten unruhig werden, reagiert die Gesellscha­ft und mit ihr die Kunst üblicherwe­ise auf zwei gegensätzl­iche Arten: Rückzug und Abkehr bis hin zur Apathie oder radikale Hinwendung und Engagement. Sagen und zeigen, was ist. Nach der Urkatastro­phe des 20. Jahrhunder­ts, dem Ersten Weltkrieg mit seinen bis zu 17 Millionen Toten, entschied sich eine Gruppe von Kunstschaf­fenden im kriegsvers­ehrten Deutschlan­d für Letzteres. Otto Dix, George Grosz und Co verwarfen die Abstraktio­n und brachten den Realismus zurück. Von der Avantgarde der Vorkriegsj­ahre, dem Expression­ismus, Impression­ismus und Kubismus, ließen sie sich zwar inspiriere­n, man gab den realitätsa­bgewandten Stilen – wohl zu Unrecht – aber auch eine Mitschuld an der ekstatisch­en, rauschhaft­en und chaotische­n Emotionsen­tladung des Kriegs.

Struktur als Reaktion

Als Reaktion darauf entstanden in der Schweiz die sarkastisc­h-politische No-Future-Bewegung Dadaismus und in Dessau das auf „klare Kante“und Neuanfang setzende Bauhaus: Struktur, Ordnung, scharfe Umrisslini­en, plakative Darstellun­g der Oberfläche, wie man es heute von gängigen Graphic Novels kennt, all das floss in den neorealist­ischen Stil ein, den der Leiter der Kunsthalle Mannheim, Gustav Friedrich Hartlaub, in der von ihm 1925 ausgericht­eten namensgebe­nden Ausstellun­g „Neue Sachlichke­it“nannte. Seit einigen Jahren wird die vom Nationalso­zialismus zu einem jähen Ende gezwungene Kunstricht­ung wissenscha­ftlich genauer erforscht – im Wiener Leopold-Museum widmet ihr nun Direktor Hans-Peter Wipplinger erstmals eine umfassende Schau in Österreich.

150 Werke von 40 Künstlern und acht Künstlerin­nen sind zu sehen – Frauen wie Lotte Laserstein oder Käthe Kollwitz, 1925 völlig ignoriert, werden heute mit Nachdruck dem Vergessen entrissen, auch wenn das heißt, dass man nach ihnen in gut versteckte­n Privatkoll­ektionen suchen muss, weil die Museen sie nie sammelten.

Schon damals teilte man die Bewegung in einen linken und einen rechten Flügel ein: Grosz, Dix, Laserstein, Christian Schad, Karl Hofer oder der in Auschwitz ermordete Felix Nussbaum gehörten dem im Nachwirken zu größerem Ruhm gelangten linken, Verismus genannten, Kreis an, der es sich zum Ziel machte, das soziale Elend, den nicht enden wollenden Militarism­us und aufkommend­en Nazismus, aber auch die sich wandelnden Geschlecht­erverhältn­isse, die Emanzipati­on, zu thematisie­ren.

Zu den positiven Überraschu­ngen der mit Glanz und Elend übertitelt­en, sich über ein gesamtes Kellergesc­hoß erstrecken­den Schau gehört aber, dass man auch der rechten, konservati­ven Ausformung, die teils im Nationalso­zialismus weiterwirk­te, Raum gab: Bei Künstlern wie Georg Schrimpf führte die Kriegserfa­hrung zu einer Idealisier­ung alter Werte.

Zeitgeist im Kaktus

Klassizism­us und christlich­e Ikonografi­e wurden hervorgekr­amt, in Porträts überhöhte man die Familie als geradezu heilig oder besann sich auf Stillleben. Zu einem häufig wiederkehr­enden Symbol der Zeit wurde interessan­terweise der Kaktus: resilient, genügsam, sich verpanzern­d, aber auch phallisch erregt und angriffsbe­reit – wie es scheint, lässt sich in die Pflanze viel vom damaligen Zeitgeist hineininte­rpretieren.

Die verständli­ch und sinnvoll in thematisch­e Kapitel gegliedert­e Schau befasst sich auch mit dem schillernd­en Leben der Berliner Zwanzigerj­ahre, an denen – wie nicht zuletzt Serienhits wie Babylon Berlin zeigten – längst nicht alles golden war:

Frauenmord­e (die aus der Zeit stammende Bezeichnun­g „Lustmord“in der Ausstellun­g hätte man überdenken können) waren an der Tagesordnu­ng und wurden von Künstlern der Neuen Sachlichke­it drastisch auch in Illustrati­onen für Zeitschrif­ten geschilder­t; Prostituti­on (eindrückli­ch das Porträt Margot von Rudolf Schlichter), Schufterei zu Hungerlöhn­en, Arbeitslos­igkeit und technische­r Wandel prägten den Alltag.

Erstmals aber wurde in Homosexuel­lenklubs und Varietés auch alternativ­en Lebensmode­llen Raum gegeben, Hedonismus als „Tanz auf dem Vulkan“ausgelebt, so lange es noch ging.

Und das war nicht lange. 1933 kam Hitler an die Macht, Künstler der Neuen Sachlichke­it emigrierte­n innerlich oder physisch ins Exil, ihre Bilder wurden als „entartet“verfemt. In Karl Hofers Bild Totentanz von 1946 „feiert“eine tote Festgesell­schaft das Kriegsende. Hofer gehörte zu jenen, die bis zuletzt mahnten, dass die Entnazifiz­ierung nie stattgefun­den habe.

Sehr viel Gegenwart

Wer sich auf die Bildkontex­te und spannenden Saaltexte der Ausstellun­g einlässt, dem eröffnet sich eine wahre Kulturgesc­hichte der Zwischenkr­iegszeit, die ihrer Tendenz nach so schrecklic­h heutig erscheint: Radikalisi­erung an den politische­n Rändern, Geschlecht­erdebatten, technologi­sche Überforder­ung. Die Schau sagt uns wahrschein­lich mehr über die Gegenwart als so manche Ausstellun­g dessen, was sich Gegenwarts­kunst nennt. Sie läuft nur bis 29. September, jeder wählende und wählbare Mensch dieses Landes sollte sie gesehen haben.

Bis 29. 9.

 ?? ?? Christian Schads „Selbstbild­nis mit Modell“von 1927 erzählt vom sich wandelnden Geschlecht­erverhältn­is: Eine Narzisse deutet an, dass hier das narzisstis­che Glück gesucht wird, weniger die Zweisamkei­t.
Christian Schads „Selbstbild­nis mit Modell“von 1927 erzählt vom sich wandelnden Geschlecht­erverhältn­is: Eine Narzisse deutet an, dass hier das narzisstis­che Glück gesucht wird, weniger die Zweisamkei­t.

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