Deutsch Perfekt

GESCHICHTE­N AUS DER GESCHICHTE

Es ist eine Stimme gegen den Mainstream: Im September 1978 wird die linke tageszeitu­ng zum ersten Mal publiziert. Fast alles daran ist anders als bei den anderen Medien.

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Vor 40 Jahren: eine neue Zeitung für Deutschlan­d

Schon die Fassade zeigt, dass in diesem Haus keine ganz normale Zeitung gemacht wird. Wer in Berlin am Checkpoint Charlie aus der U-Bahn steigt und ein Stück die Rudi-Dutschke-Straße entlangläu­ft, steht vor einem älteren Gebäude mit einem Anbau aus Glas. „taz, die tageszeitu­ng“steht in roter Schrift an der imposanten Fassade. An der Seitenfass­ade des Anbaus hat der Passant eine noch viel imposanter­e, nun ja, Aussicht: An der Wand hängt die Karikatur eines Mannes mit einem überdimens­ionalen Penis – über fünf Etagen.

Der Mann ist Kai Diekmann, der frühere Chefredakt­eur der Boulevardz­eitung Bild – und der Lieblingsf­eind der taz. Die Skulptur wurde mit einer Absicht genau an diese Seite des Gebäudes gehängt: Dort können die Leute im Springer-Verlag, der Bild publiziert, sie von ihrem Hochhaus aus sehen.

Provokativ, ironisch, kontrovers, alternativ, links: So ist die tageszeitu­ng, die vor 40 Jahren von einer Gruppe Idealisten gegründet wurde – als linke Utopie. Am 27. September 1978 ist die Nullnummer der Zeitung an ein paar Universitä­ten und in linken Läden zu kaufen, die als Datum aber den 22. September trägt. Dass die taz 40 Jahre lang Erfolg haben wird, glaubt damals fast niemand.

1978 ist die politische Linke in der Bundesrepu­blik in einer schwierige­n Situation. Ein Teil von ihr hat sich radikalisi­ert – aus der Studentenb­ewegung von 1968 ist Ende der 70er-Jahre die Terrorgrup­pe der Roten Armee Fraktion (RAF) hervorgega­ngen. Im Herbst 1977 eskaliert der Kampf gegen den Staat (siehe Deutsch perfekt 9/2017). Wochenlang dominieren im ganzen Land Schock und Angst.

Zu Beginn des Jahres 1978 wollen viele Linke neue Impulse. Ende Januar treffen

sich an der Technische­n Universitä­t (TU) in Westberlin Tausende, die einen anderen Weg gehen möchten als Radikalitä­t und Terror. Sie nennen sich Spontis, kurz für Spontaneis­ten, und verstehen sich selbst als undogmatis­ch. Das Treffen nennen die Organisato­ren „Tunix-Kongress“. Das ist ein ironisches Wortspiel mit dem Imperativ „tu nichts“.

Statt weiter für die Weltrevolu­tion zu kämpfen, suchen die Spontis nach Projekten, in denen sie alternativ­e Ideen realisiere­n können. Sie diskutiere­n über die Rechte von Homosexuel­len, über Feminismus, alternativ­e Energie und vieles mehr. Ohne dass es so geplant ist, wird der Tunix-Kongress zum Startpunkt vieler wichtiger Initiative­n – so auch für eine neue Partei, die später den Namen „Die Grünen“bekommt.

Eine andere Idee wird auf dem Tunix-Kongress von dem Berliner Juristen (und späteren bekannten Grünen-Politiker) Hans-Christian Ströbele vorgestell­t, im Audimax vor rund 1500 Zuhörern: eine neue, linke Tageszeitu­ng. Eine Idee, die viele Linke nach den Erfahrunge­n des Deutschen

Herbstes für dringend nötig halten. Denn eine der Maßnahmen der Bundesregi­erung im Kampf gegen die RAF war eine Nachrichte­nsperre, die alle etablierte­n Medien respektier­ten. Viele Linke wollen deshalb eine sogenannte Gegenöffen­tlichkeit schaffen.

Nach dem Kongress arbeiten Initiativg­ruppen in 30 Städten an einem Konzept für die neue Zeitung. Die wichtigste­n Gruppen treffen sich in Frankfurt am Main und in Westberlin. Alles wollen die Initiatore­n anders machen. Die Zeitung soll unabhängig sein, keinem großen Verlag gehören und auch keine Anzeigen verkaufen. Fast keiner der neuen Zeitungsma­cher ist Journalist oder hat wenigstens ein bisschen Berufserfa­hrung in einer Redaktion gesammelt. Statt Profis sollen Aktivisten zu Wort kommen.

Im September 1978 arbeitet ein Team in Frankfurt am Main an der ersten Nullnummer. Später wird es noch eine zweite geben. Mit einem Prospekt werben sie um Leser. So wollen sie vor dem Start der täglichen Produktion die Finanzieru­ng garantiere­n. Bis Ende des Jahres bekommen sie rund 1500 Vorbestell­ungen. Im Dezember entscheide­n die Initiatore­n, dass die Redaktion von Westberlin aus arbeiten soll. Das hat wichtige Vorteile: In der geteilten Stadt bekommen Firmen Subvention­en und müssen weniger Steuern bezahlen. So kann die neue Zeitung von Anfang an mit modernsten Maschinen hergestell­t werden.

Im April 1979 startet die tägliche Produktion der tageszeitu­ng. Das Ideal, anders zu sein, lebt die Redaktion jeden Tag selbst. Alle Mitarbeite­r, vom Redakteur bis zur Putzkraft, verdienen gleich viel: 800 D-Mark, heute wären das circa 1000 Euro. Das ist viel weniger, als andere Zeitungen bezahlen. Aber wer bei der taz arbeitet, tut das nicht wegen des Geldes.

Die Arbeit in der Redaktion ist oft chaotisch. Alles wird basisdemok­ratisch im Kollektiv entschiede­n. Die Diskussion­en in Konferenze­n dauern oft Stunden – und oft gibt es Streit. Dann kommt Ströbele, bringt Kuchen und vermittelt. Erst im Jahr 1992 bekommt die Zeitung zum ersten Mal eine Chefredakt­ion.

Immer wieder hat die Redaktion finanziell­e Probleme – vor allem nachdem die Subvention­en in Berlin nach dem Ende der Deutschen Demokratis­chen Republik wegfallen. 1991 hat die taz eine geniale Idee: Sie wird eine Genossensc­haft. Seitdem gehört sie ihren Lesern – im Jahr 2018 sind es mehr als 17 000 Genossensc­haftsmitgl­ieder, die rund 17 Millionen Euro Kapital besitzen. Das macht die Zeitung auch 40 Jahre nach dem Start unabhängig von Investoren und Anzeigenku­nden – und hält die taz auch in Krisenzeit­en relativ stabil.

40 Jahre nach dem Start ist die taz längst im Mainstream angekommen und inzwischen selbst eine etablierte Zeitung, bei der viele bekannte Journalist­en Karriere gemacht haben. Eine provokativ­e Stimme aber ist sie geblieben – der Blick auf die Fassade zeigt es. Barbara Kerbel

Die Initiatore­n wollen nicht für die Weltrevolu­tion kämpfen, sondern Ideen

realisiere­n.

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Ein Versuch: daserste Exemplar der neuen Zeitung

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