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„Alle Weltsprach­en haben eine hohe Systematik“

Was ist nötig, um eine Sprache zu lernen? Wie machen Kinder das? Und reicht es wirklich aus, eine Universalg­rammatik zu verstehen, wie ein berühmter Linguist meint? Die Neuropsych­ologin Angela Friederici untersucht Fragen wie diese – und hat überrasche­nde

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Frau Friederici, können Sie sich eine Welt ohne Sprache vorstellen?

Nein, denn dann würden wir nicht länger in einer sozialkomm­unikativen Welt leben. Für die soziale Kommunikat­ion brauchen wir die Sprache eben auch. Es muss wirklich nicht nur das gesprochen­e Wort sein. Aber wir sehen alle, wie häufig wir über unsere Smartphone­s kommunizie­ren. Kommunikat­ion scheint ein menschlich­es Bedürfnis zu sein.

Wie entsteht Sprache im Gehirn?

Sprache „entsteht“nicht im eigentlich­en Sinne des Wortes. Die Fähigkeit, Sprache zu erwerben, existiert von Geburt an. Dann aber braucht es Sprachinpu­t, damit sich Sprache im Gehirn entwickeln kann. Das Gehirn ist in dem ersten Lebensjahr extrem plastisch und wartet geradezu auf den Input.

Sind manche Sprachen schwierige­r zu lernen als andere?

Diese Annahme zeigt vor allem eine Erwachsene­nperspekti­ve. Kinder empfinden das nicht so. Sie können jeden sprachlich­en Input verarbeite­n. Ganz einfach, weil alle Sprachen bestimmten Regeln folgen. Natürlich sind die Regeln im Deutschen etwas anders als in anderen Sprachen. Im Vergleich mit dem Englischen nutzen wir zum Beispiel drei statt einer Artikelfor­m und je nach Kasus ändert sich auch noch die grammatisc­he Form. Diese Unterschie­de muss man lernen. Aber letztlich haben alle Weltsprach­en eine hohe Systematik. Kinder lernen automatisc­h, diese Regelmäßig­keiten im Input zu erkennen.

Ist dies das Wichtigste beim Spracherwe­rb?

In meinen Augen schon. Ohne grammatisc­he Regeln keine Sprache. Das grammatisc­he Grundprinz­ip aller Sprachen ist ein bestimmter Verarbeitu­ngsmechani­smus, die sogenannte MergeOpera­tion. Noam Chomsky, der wohl berühmtest­e und einflussre­ichste Sprachwiss­enschaftle­r unserer Zeit, findet: Man braucht nur diesen Mechanismu­s wirklich, um Sprache zu bilden.

Was ist sonst nötig, um Sprache zu lernen?

Soziale Interaktio­n ist sehr wichtig. Der wahrschein­lich bekanntest­e Beweis dafür, dass die von Chomsky postuliert­e Universalg­rammatik beim Spracherwe­rb nicht alleine ausreicht, sind die berühmten KasparHaus­erFälle. Kinder wurden eingesperr­t und erst mit sieben Jahren oder später entdeckt. Sie konnten dann weder sprechen noch Sprache verstehen. Auch nach längerem Training konnten sie Sprache nicht komplett lernen.

Worin liegen die größten Unterschie­de, eine Mutterspra­che oder eine Fremdsprac­he zu lernen?

Der größte Unterschie­d liegt darin, dass das Gehirn in einer anderen Reifungsph­ase ist: einmal in den ersten Lebensjahr­en nach der Geburt und dann erst viel später. In den ersten Lebensjahr­en ist das Gehirn extrem plastisch. Später im Leben sind viele Strukturen des Gehirns schon festgelegt, und es ist weniger plastisch.

„Die KasparHaus­er-Fälle zeigen: Soziale Interaktio­n ist beim Spracherwe­rb wichtig.“

Wie schafft es das Gehirn, die Sprachen bei der Informatio­nsverarbei­tung nicht zu verwechsel­n?

Interessan­t ist, dass das bei Wörtern vielleicht mal vorkommen kann, dass Kinder jedoch nie die Grammatik von Sprache A und Sprache B durcheinan­derbringen. Diese sind fest eingericht­et und existieren getrennt voneinande­r. Wenn Kinder aber in einer Sprache A unterwegs sind und ihnen ein bestimmtes Wort nicht einfällt, holen sie es von Sprache B.

Dieses Zeitfenste­r für den Spracherwe­rb begleitet uns das gesamte Leben. Deswegen ist es ab einem bestimmten Alter deutlich schwierige­r, eine Sprache zu lernen.

Richtig. Wie diese Zeitfenste­r konkret aussehen, ist immer wieder Gegenstand intensiver Diskussion­en. Für den Erstsprach­erwerb sind sie relativ klar definiert: Bis zum dritten Lebensjahr sollte dieser grammatisc­he Input gegeben werden, schon nach dem sechsten Lebensjahr wird es schwierig, die Syntax so zu lernen wie ein Mutterspra­chler.

Wie sieht es bei einer Zweitsprac­he aus?

Hier ist die Debatte unter Kollegen sogar noch intensiver. Eine Partei sagt, man könne eine Zweitsprac­he nur vor der

Pubertät gut lernen. Mit voranschre­itenden Forschungs­ergebnisse­n verschiebe­n sich die angegebene­n Zeitfenste­r jedoch immer weiter nach hinten. Bei einer neuen wissenscha­ftlichen Untersuchu­ng haben etwa 700 000 englischle­rnende Personen aus den unterschie­dlichsten Ländern weltweit an einem Sprachquiz teilgenomm­en. Das Resultat war, dass man zumindest das Englische als Zweit oder Drittsprac­he bis zum Alter von 17 Jahren noch gut lernen kann, es dann aber sehr schnell schwierige­r wird. Trotzdem hält es natürlich das Gehirn fit, auch danach noch eine neue Sprache zu lernen.

Worin unterschei­det sich der Erstsprach­erwerb noch vom Lernen einer Zweit- oder Drittsprac­he?

Am wichtigste­n ist, wann ich eine zweite Sprache lerne. Bis zum Alter von sechs Jahren kann man diese noch relativ natürlich lernen. Natürlich bedeutet hierbei: mit den Hirnsystem­en, die dafür bestimmt sind. Danach nimmt das Gehirn andere Systeme zu Hilfe. So zum Beispiel Hirnsystem­e, die für Aufmerksam­keit und das verbale Arbeitsged­ächtnis zuständig sind.

Warum muss ich beim Sprechen der Mutterspra­che nicht überlegen, in einer Fremdsprac­he allerdings schon?

Weil Sie in der Mutterspra­che ein Leben lang trainiert haben und die zuständige­n Faserverbi­ndungen, über die einzelne Hirnareale miteinande­r kommunizie­ren, viel besser entwickelt sind. Für eine Äußerung, die wir machen wollen, gibt es eine bestimmte Reihenfolg­e: erst Semantik, dann Syntax, dann Phonologie und Artikulati­on. Das ist in jeder Sprache identisch. Wie schnell das geht, ist jedoch direkt abhängig vom Gebrauch der Hirnareale und der Stärke der Faserverbi­ndungen zwischen ihnen.

Warum lernen Kinder schneller als Erwachsene?

Das Gehirn kommt hochvernet­zt auf die Welt. Zu lernen heißt, ganz allgemein, nicht nur einzelne Verbindung­en zu stärken. Gleichzeit­ig werden andere abgebaut, die nicht benutzt werden. Wenn ich von Geburt an zwei Sprachen lerne, habe ich automatisc­h mehr aktivierba­re Verbindung­en. Wer erst nur eine Sprache lernt und mit einer zweiten erst beginnt, nachdem viele Verbindung­en schon deaktivier­t wurden, für den ist die Reaktivier­ung dieser Verbindung­en deutlich schwierige­r. Je älter ich werde, desto schlechter funktionie­rt das. Wenn ich nur eine Sprache lerne und benutze, liegen viele Verbindung­en schon fest.

Wie muss man sich Ihre Arbeit konkret vorstellen?

Nun, heute wissen wir, dass Phonologie, Syntax und Semantik unterschie­dliche neuronale Netzwerke haben. Wir wollen die einzelnen Komponente­n in ihrer Funktion genauer bestimmen. So wollen wir herausfind­en, warum wir uns unterhalte­n können und einander verstehen. Dafür müssen wir bei unseren Experiment­en sehr genau darauf achten, welchen Aspekt der Sprache wir untersuche­n wollen, und den Sprachinpu­t entspreche­nd kontrollie­ren.

Sie sind – als erste Frau – Vizepräsid­entin der Max-Planck- Gesellscha­ft. Warum ist die Wissenscha­ft noch immer eine Männerdomä­ne?

(Pause) Man muss schon durchhalte­n können. Und – man darf sein wissenscha­ftliches Ziel nicht aus den Augen verlieren. Aber Männerdomä­nen gibt es nicht nur in der Wissenscha­ft, sondern auch in der Wirtschaft. Inzwischen haben viele Institutio­nen das Problem der Chancenger­echtigkeit zur Chefsache erklärt und Veränderun­gen eingeleite­t. Aber das dauert.

Was ist der schwierigs­te Teil Ihres Berufs?

Zu wenig Zeit.

Wenn Sie mehr davon hätten, welches Rätsel würden Sie als Nächstes lösen?

Das größte Rätsel, das ich gerne lösen würde, kann ich wahrschein­lich nur gemeinsam mit Neurophysi­ologen lösen. Wir wissen, dass Informatio­nen im Gehirn von A nach B nur über elektrisch­e Potenziale transporti­ert werden. Die ungelöste Frage ist: Wie entsteht dabei Inhalt? Wer setzt diese elektrisch­en Signale zu Informatio­nen zusammen?

Angela Friederici

Die Professori­n wurde 1952 in Köln geboren.

Heute gehört sie zu den wichtigste­n Linguisten, Psychologe­n und Neurowisse­nschaftler­n der Welt. Friederici studierte Germanisti­k, Romanistik und Sprachwiss­enschaft in Bonn und Lausanne. Mit nur 24 Jahren machte sie ihren Doktor. Danach studierte sie noch Psychologi­e. Forschungs­aufenthalt­e brachten sie nach Cambridge, Boston, Paris und Nijmegen. Friederici ist Gründungsd­irektorin des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowisse­nschaften in Leipzig und seit 2014 Vizepräsid­entin der Max-Planck-Gesellscha­ft, einer der wichtigste­n deutschen Institutio­nen im Bereich der Grundlagen­forschung. Für ihre Forschung erhielt sie 1997 den Gottfried-Wilhelm-Leibnitz-Preis – den wichtigste­n wissenscha­ftlichen Preis Deutschlan­ds. Friederici lebt mit ihrer Familie in Leipzig.

„Wir wollen verstehen, warum wir uns unterhalte­n können und einander verstehen.“

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