„Es gibt nichts, was Deutsche mehr fürchten“
Auch Deutsche lieben frische Luft. Offene Fenster in Bus und Bahn sind trotzdem ein Tabu, weiß unsere Lieblingsrussin. Lieber schwitzen alle, weil niemand den Tod riskieren will.
Neulich bin ich mit dem Zug nach Hamburg gefahren, um eine Freundin zu besuchen. Den ICE, in dem ich einen Platz reserviert hatte, hat die Bahn spontan durch einen IC ausgetauscht – also einen langsameren und weniger komfortablen Zug. Den Wagen mit der Nummer 2, in dem ich theoretisch meinen Platz hatte, gab es natürlich nicht. Auch keine Klimaanlage. Und weil an diesem Tag deutschlandweit sommerliche Temperaturen von 30 Grad herrschten, war es in dem Ersatzzug nicht nur sehr voll, sondern auch sehr heiß. Die einzige Möglichkeit, sich abzukühlen, boten die Fenster an. Vorausgesetzt, man dürfte sie öffnen. Das kann man anders als im ICE in einem IC nämlich tun. Aber Pustekuchen! Ich saß in einem Abteil mit fünf Deutschen – und es gibt nichts, was Deutsche mehr fürchten als den Luftzug. Diesen frischen Windhauch, der unkontrolliert durch den Raum weht. Meine Abteilnachbarn waren sich schnell einig, dass das Schwitzen besser ist als der Tod. Der Luftzug wird in Deutschland nämlich verantwortlich gemacht für Erkältungen, Grippen, Lungenentzündungen und alle anderen Krankheiten auch. Es ist fast unmöglich, in Deutschland ein Fenster zu öffnen, weil einer immer sofort schreit: „Es ziiiiiieht!“
Um ihr Entsetzen über den Luftzug noch deutlicher zu machen, sagen Deutsche auch: „Es zieht wie Hechtsuppe!“Dafür dass niemand gern in einer Hechtsuppe sitzt, habe auch ich Verständnis. Also ging das Fenster in meinem Abteil nur dann auf, wenn der Zug an einem Bahnhof hielt. Das tut er auf der vierstündigen Fahrt von Frankfurt nach Hamburg genau drei Mal. Am Ende fühlte ich mich wirklich wie ein Fisch, der stundenlang in einer heißen Brühe gelegen hatte.
Es ist nicht so, dass Deutsche keine frische Luft mögen. Ganz im Gegenteil, sie sind sehr gern zu Fuß unterwegs. Regelmäßig überqueren sie die Alpen und laufen den Jakobsweg auf und ab. Sie fahren überall mit dem Fahrrad hin, selbst bei strömendem Regen und Sturmböen. Und sie sind besessen vom Lüften.
Lüften ist das Gegenteil von ziehen. Einmal am Tag reißt der Deutsche alle Fenster auf, um zu lüften. Ich habe das Gefühl, dass der Deutsche deshalb gern in stickigen Räumen sitzt, um lüften zu können – wie auf meiner Zugfahrt.
Besonders gern wird hier aber im Winter gelüftet. Damit es nicht schimmelt, oder weiß der Teufel warum. Vor Schimmel hat der Deutsche jedenfalls auch viel Angst. Wenn das Zimmer dann auf zehn Grad runtergekühlt ist, schwillt dem Deutschen vor Stolz die Brust, und er sagt zu mir: „Warum frierst du? Du kommst doch aus Sibirien!“Manche Deutsche kommen sogar morgens später zur Arbeit, weil sie zu Hause mal „ordentlich“lüften mussten. Der deutsche Arbeitgeber hat dafür natürlich vollstes Verständnis.
In Hessen, wo auch Frankfurt liegt, gibt es sogar einen Feiertag des Lüftens. Er heißt „Wäldchestag“. Viele Einwohner haben dann am Nachmittag frei. Ob die Menschen dann in den Wald gehen oder zu Hause gut durchlüften, ist – noch – ihnen selbst überlassen.