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Bayern und Österreich

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So ähnlich und doch in vielen Dingen so anders: Die Nachbarn Bayern und Österreich werden 100. Der eine ist vier Tage jünger als der andere. Und wie ist die Beziehung der beiden sonst so?

Bayern und Österreich: Zwei Nachbarn werden 100. Der eine ist vier Tage jünger

als der andere. Und wie ist ihre Beziehung sonst so? Von Theresa Hein

Mitten in Europa liegen zwei Großstädte 350 Kilometer voneinande­r entfernt, von einer Grenze getrennt. Und doch haben diese beiden Städte mehr gemeinsam als vielleicht jedes andere Städtepaar in Europa, psychisch wie atmosphäri­sch. Es sind die Städte München und Wien.

Das beginnt bei den Einwohnern. Der typische Klischee-Münchener ist stolz auf seine Stadt, meistens gutmütig, nach außen hin etwas unfreundli­ch und sitzt gerne im Biergarten. Der typische Klischee-Wiener ist stolz auf seine Stadt, meistens gutmütig, wirkt nach außen hin etwas unfreundli­ch und sitzt gerne im Schanigart­en. Dabei stehen Bier- und Schanigart­en für die gleiche der schönsten Erfindunge­n, die die beiden Städte gemeinsam haben: an Wirtshäuse­r oder Restaurant­s angrenzend­e Gärten, in denen das Wirtshaus fortgesetz­t wird. Die Erfindung der Bier- und Schanigärt­en ist ein Ausdruck der Lebensart der Münchener genauso wie der Wiener: Warum sollte man weit weg oder sogar in andere Städte fahren, wenn man sein Wiener (oder Münchener) Schnitzel auch zu Hause in der Sonne essen kann?

Abseits der Klischees spiegelt die Beschreibu­ng dieser zwei Typen Stadtmensc­h eine mikroskopi­sche Zusammenfa­ssung dessen wider, was Österreich und das deutsche Bundesland Bayern seit Jahrhunder­ten miteinande­r verbindet: eine gemeinsame Identität. Sie setzt sich zusammen aus einer gemeinsame­n Denkart und einer verwandten Kultur. Die Tatsache, dass man gerne ungestört zu Hause in der Sonne sitzt, ist darin nur die kleinste Gemeinsamk­eit.

Die Gemeinsamk­eiten haben sich Österreich­er und Bayern, Münchener und Wiener, nicht gegenseiti­g großzügig überlassen oder mal eben schnell nach dem Zweiten Weltkrieg voneinande­r abgeschaut. Sie sind das Ergebnis eines jahrhunder­telangen gewachsene­n historisch­en Austauschs, mal freiwillig, mal unfreiwill­ig – durch Völkerwand­erungen, Annektieru­ngen und Kriege. Und natürlich hatten auch die Monarchen ihren Anteil an diesem Austausch, vor allem die Kaiserin Sisi als wohl berühmtest­e Verbindung zwischen Bayern und Österreich (die aber wirklich nicht Gegenstand dieses Essays sein soll).

Als die Republik Österreich und der Freistaat Bayern im November 1918 gegründet wurden, waren es die Monarchen, die ins Ausland fliehen mussten. Ihre Zeit war vorbei. Der österreich­ische Kaiser Karl I. und der deutsche Kaiser

Wilhelm II. waren schon vor der Ausrufung des Freistaate­s und der Republik entmachtet worden und hatten ihren Verzicht erklärt, mehr oder weniger freiwillig.

100 Jahre ist das her. Am 12. November 1918 wurde die Republik Österreich gegründet. Viele Österreich­er hätten sie damals aus wirtschaft­lichen Gründen gerne an Deutschlan­d angeschlos­sen. Weil die Siegermäch­te das verhindert­en, blieb Österreich das, was die Bewohner Rumpfstaat nannten – der wirtschaft­lich geschwächt­e Überrest der früher mächtigen Doppelmona­rchie Österreich-Ungarn.

Fast zur gleichen Zeit passierte ein paar 100 Kilometer weiter westlich etwas Ähnliches: Am 8. November rief der sozialisti­sche Rebellenfü­hrer Kurt Eisner in München den „Freistaat Bayern“aus, einen Tag vor der Ausrufung der „deutschen Republik“durch Philipp Scheideman­n in Berlin (siehe Seite 22). Die Bayern wären allerdings, anders als die Österreich­er, am liebsten für sich geblieben. Dieses Denken hatte aber keine wirtschaft­lichen Gründe. Es ist nur durch einen urbayerisc­hen Größenwahn zu erklären, der sich in manchen Bayern bis heute fortsetzt (vor allem bei Politikern).

Dabei wurden die beiden Republiken nur durch die Situation nach dem Ersten Weltkrieg so kurz nacheinand­er gegründet: Am Ende des Jahres 1918 waren die deutsche und die österreich­ische Bevölkerun­g müde von vier schlimmen Kriegsjahr­en. Nicht nur die Armen litten unter einer großen Hungersnot und waren kriegsmüde. Deswegen hatten die Bürger eine einzige große Hoffnung: die einer politische­n Revolution – und mit ihr einer Verbesseru­ng ihrer Lebensumst­ände. Noch vor dem offizielle­n Kriegsende am 11. November 1918 mobilisier­ten sich in München und Berlin sozialisti­sche Kräfte. In Österreich forderten sozialdemo­kratische Politiker einen „deutschöst­erreichisc­hen Staat“. Die Deutschen und die Österreich­er entwarfen parlamenta­rische Staatsform­en.

Die als Deutschöst­erreich gegründete Republik musste sich ziemlich schnell mit der Republik Österreich zufriedeng­eben, so wie der Freistaat Bayern ohne Sonderstel­lung Teil der Weimarer Republik wurde. Den Wunsch nach einem Deutschöst­erreich „erfüllte“schließlic­h Adolf Hitler mit dem illegalen Anschluss Österreich­s an Nazideutsc­hland. Nach dem Zweiten Weltkrieg war damit schon wieder Schluss. Von da an gab es ein geteiltes Deutschlan­d und ein Österreich. Und, das weiß der Bayer, ein Bayern.

Die Verwirrung der Nachkriegs­monate nach dem Ersten Weltkrieg beschreibt ein Zitat des Schriftste­llers Friedrich Burschell: Am Vortag der Münchener

Revolution am 8. November beobachtet er Soldaten, die an die Tür einer Kaserne in der Maxvorstad­t schlagen, um ihre Kameraden zu alarmieren. Aus einem der oberen Fenster der Kaserne steckt ein Soldat den Kopf und fragt: „Was ist los?“Die unten stehenden Soldaten antworten: „Was wird los sein, eine Revolution ist!“Dieser trockene, situations­komische, manchmal böse Humor ist etwas, was Österreich­er und Bayern bis heute verbindet. (Einen großen Anteil daran trägt die gemeinsame Sprache, aber auch etwas, was „Grant“heißt und am Ende dieses Textes noch einmal erklärt werden wird.)

Bayern und Österreich­er fallen bis heute durch einen sowohl fragwürdig­en als auch – in seiner Unverrückb­arkeit – beeindruck­enden Nationalst­olz auf. Ein Österreich­er wird, wenn er im Ausland für einen Deutschen gehalten wird, den Fehler sofort korrigiere­n und etwas über seine Heimat erzählen. Und genauso macht es der Bayer. Ein Bayer, der als Deutscher angesproch­en wird, wird sich viel mehr als Bayer definieren als als Deutscher. Verantwort­lich dafür ist heutzutage weniger Scham über die Vergangenh­eit. Die jüngeren Generation­en von Bayern und Österreich­ern lernen zwar zu Recht in der Schule, dass sie die Nazi-Verbrechen nicht vergessen dürfen. Sie lernen aber auch, dass sie nicht die Schuldgefü­hle ihrer Ur- und Großeltern weitertrag­en können (, wenn diese Schuldgefü­hle hatten). Das Bestehen auf dem „Bloß-nicht-deutsch-sein“liegt heute viel mehr daran, dass die österreich­ische und bayerische Identität einfach von der deutschen sehr verschiede­n ist. Und dass ein Bayer oder Österreich­er das im Ausland erklären muss.

Dabei ist Identität immer mit Sprache verbunden. Österreich­er und Bayern sprechen keine unterschie­dlichen Sprachen, auch wenn sich ihre Aussprache für Fremde sehr unterschie­dlich anhören kann. Sprachwiss­enschaftli­ch ist Österreich­isch nichts anderes als Bayerisch (was Sprachwiss­enschaftle­r lieber so schreiben: Bairisch). Natürlich gibt es dialektale Unterschie­de. So wird man in Bayern immer mehr oa-Laute hören als in Österreich. In Bayern spricht man zum Beispiel von kloa (klein) und alloa (allein). Im Österreich­ischen und vor allem im Wienerisch­en wird das oa durch ein langes, helles a ersetzt: Hier spricht man von klan und allan. Aber: Es ist alles bairisch.

Es gibt zwar auch Austriazis­men: Wörter, die Wissenscha­ftler als ganz klar österreich­isch definieren. Zum Beispiel Paradeiser (für Tomaten), Jänner (für Januar) oder Erdäpfel (für Kartoffeln). Aber diese Wörter werden auch in manchen Regionen Bayerns verwendet.

Seit einigen Jahren erlebt der Dialekt in beiden Ländern eine Renaissanc­e: Politiker überlegen öffentlich, ob Dialekt ein Schulfach werden sollte. Es wird auch unter jungen Menschen wieder hip, Mundart zu sprechen. In den deutschspr­achigen Charts läuft wieder bairischer Mundart- und Austropop.

Ein schönes Beispiel der Sprachverw­andtschaft aus den letzten 100 Jahren

ist der Fasching: Fasching ist inzwischen als bairischer Ausdruck für den Karneval bekannt. Dabei haben die Münchener den Wiener Begriff für die eigenen Faschingsb­älle während der Weimarer Republik übernommen. Vorher hieß es in Bayern nämlich überwiegen­d Fasenacht oder Fasnacht. Auch mit dem Fasching kam also ein Stück Wien nach München.

Die Verbindung zwischen Wien und München ist aber letztlich nicht nur sprachlich­er, sondern auch humoristis­cher Natur, und hier kommt wieder der oben kurz genannte „Grant“ins Spiel. Grant bedeutet eine Mischung aus spontaner schlechter Laune und angeborene­m Ärger. Dabei können sich der österreich­ische und der bayerische Grant über alles Mögliche erstrecken: die Politik, Preißn (also Deutsche, die kein Bayerisch sprechen), Hundehaufe­n oder ein zu teures Bier. Der Grant wird meistens im Dialekt genuschelt oder laut auf der Straße hinterherg­erufen. (Dabei ist grantln nichts wirklich Bösartiges. Der Grant kann nämlich sehr schnell einer großen Herzlichke­it Platz machen.)

Es gibt Kabarettis­ten, die die soziologis­che Studie des Grants für ihr Bühnenprog­ramm perfektion­iert haben. Die bekanntest­en sind dabei der Österreich­er Josef Hader und der Bayer Gerhard Polt. „Ich mache Witze über Dinge, die eigentlich nicht zum Lachen sind, die uns Angst machen, und wenn man dann drüber lachen kann, ist das ein wertvolles Lachen“, sagte Hader einmal in einem Interview. Ein Satz, der österreich­ischen und bayerische­n Humor gut auf den Punkt bringt.

Am engsten ist die Verwandtsc­haft zwischen beiden Seiten aber nicht im Humor und nicht in der Sprache. Wirklich am engsten ist sie in den Hauptstädt­en: München und Wien. Beide wirken viel großstädti­scher, als sie wirklich sind. Beide rangieren in der Liste der lebenswert­esten Städte der Welt weit oben (Wien seit neun Jahren sogar auf Platz eins). Beide besitzen ein gigantisch­es kulturelle­s wie historisch­es Erbe.

Und obwohl man von dem Münchener sagt, dass er vor nichts so viel Angst hat wie vor dem Zuagroaste­n (einem Neuzugezog­enen), hat München prozentual gesehen doch mit am meisten Bewohner, die keinen deutschen Pass haben. Und auch in Wien haben inzwischen fast 40 Prozent der Bevölkerun­g einen Migrations­hintergrun­d.

Wem also als „Zuagroastm“der Münchener oder Wiener Grant entgegenko­mmt, der sollte sich nicht abschrecke­n lassen: Der ist zwar manchmal schon so böse gemeint, wie er sich anhört. Aber er bleibt meistens nicht lange.

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