Deutsch Perfekt

Kolumne – Alias Kosmos

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Stress macht Menschen ungeduldig, weiß unsere Lieblingsr­ussin. Trotzdem ist er für Deutsche typisch – auch auf Wanderwege­n. Denn Fehler toleriert sogar dort niemand.

Vor Kurzem hat eine britische Studie den Stress in Städten untersucht. Das Ergebnis: Deutschlan­d ist ganz locker! Unter den zehn stressfrei­esten Städten der Welt sind nämlich gleich vier deutsche. Ganz oben auf der Liste: Stuttgart. Die Studie ist oft zitiert worden. In Deutschlan­d hat man sich besonders gefreut, keiner hatte etwas dagegen einzuwende­n. Ich schon! Denn in dieser Studie wurde alles Mögliche berücksich­tigt – vom öffentlich­en Verkehr bis zu den Einkommens­verhältnis­sen. Aber nicht die Tatsache, dass in deutschen Städten Deutsche leben. Denn dann wären die Ergebnisse ganz anders.

Deutsche scheinen immer gestresst zu sein. Um sich nach dem gegenseiti­gen Wohlbefind­en zu erkundigen, fragen sie nicht „Wie geht’s?“, sondern: „Bist du gerade im Stress?“Im Arbeitsleb­en gehört es sogar zum guten Ton, gestresst zu sein. Ich höre das sehr oft von Kollegen: „Ich bin total im Stress.“Nach dem Motto: Wer nicht gestresst ist, hat nichts zu tun oder ist sogar faul.

Stress macht ungeduldig. Deutsche sind das ungeduldig­ste Volk, das ich kenne. Zögert man im Auto nur eine halbe Sekunde, nachdem die Ampel von rot auf grün geschaltet hat, hupen sie sofort hinter einem. Und wenn man dann vor lauter Schreck den Motor abwürgt, dann hupen sie noch mehr. Deshalb tue ich alles, um an der Ampel nicht als Erste anzukommen.

Wie gut, dass nur Autos mit Hupen ausgestatt­et sind. Sonst wären die deutschen Städte ziemlich laut. Wenn Deutsche nicht hupen können, schnalzen sie mit ihren Zungen, um ihre Ungeduld zu zeigen. Dieses Schnalzen hört man überall dort, wo es nicht schnell genug vorangeht – in den Supermärkt­en, beim Arzt und manchmal sogar auf Wanderwege­n im Wald. Wenn man nicht schnell aus dem Weg geht, kommt es sofort, dieses Schnalzen. Fahrradfah­rer schnalzen die Fußgänger an, die Fußgänger die Fahrradfah­rer. Schnalz, schnalz, schnalz! Wenn ich irgendwo im Ausland bin und es höre, weiß ich sofort: Deutsche sind in der Nähe. Und sie sind mit irgendwas unzufriede­n. Nach dem Schnalzen rollen sie mit den Augen. Was für ein Stress!

Das kommt alles daher, dass die Deutschen keine Fehler tolerieren. Das sieht man unter anderem am Beispiel des Fußballers Mesut Özil. Der hat nach einem Foto mit dem türkischen Präsidente­n die Nationalma­nnschaft verlassen. Wer Fehler macht, hat es hier schwer. Die amerikanis­che Devise „fail fast, fail often“ist für Deutsche ein Albtraum. Unvorstell­bar, dass das Wort „scheitern“hierzuland­e jemals positiv besetzt sein könnte. Deutsche überlegen sehr gründlich, bevor sie etwas machen. Sie sichern sich ab, stellen sich auf – und dann stimmt auch alles hundertpro­zentig. Fehlerquot­e gleich Null.

Zurzeit wird viel darüber diskutiert, ob Deutschlan­d schlecht auf die Digitalisi­erung vorbereite­t ist. Ich bin überzeugt, dass es mit der Angst vor Fehlern zusammenhä­ngt. In dieser neuen Welt ist Ausprobier­en, Scheitern, Weitergehe­n gefragt. Dafür sind Deutsche nicht gemacht – und stehen sich selbst im Weg.

 ??  ?? Alia Begisheva wurde in Moskau geboren. Heute lebt die 43-Jährige mit ihrem kanadische­n Mann und ihren zwei Kindern in Frankfurt am Main und weiß viel besser als viele ihrer deutschen Nachbarn, dass man Papier und Glas nicht in dieselbe Mülltonne wirft. Jeden Monat schreibt sie diese Kolumne.
Alia Begisheva wurde in Moskau geboren. Heute lebt die 43-Jährige mit ihrem kanadische­n Mann und ihren zwei Kindern in Frankfurt am Main und weiß viel besser als viele ihrer deutschen Nachbarn, dass man Papier und Glas nicht in dieselbe Mülltonne wirft. Jeden Monat schreibt sie diese Kolumne.

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