Was am Ende bleibt
Ende Dezember verlieren die letzten Männer ihren Job unter der Erde. Was bleibt von der Bergwerkskultur, die für Nordrhein-Westfalen und das Saarland so wichtig war?
Vor 50 Jahren haben noch Hunderttausende Männer in Deutschland Kohle aus der Tiefe der Erde geholt. Ende Dezember ist für die Letzten von ihnen Schluss.
Ist ihre spezielle Kultur bald vergessen? Von Julia Ley
Wenn Hans Gerzlich an früher denkt, dann denkt er an schwarzen Schnee. An die Zeit, als man noch zusehen konnte, wie sich in wenigen Minuten der Kohlenstaub auf den Neuschnee legte. Oder an die saubere Wäsche, die seine Mutter nicht zum Trocknen raushängen konnte, wenn der Wind von der Zeche her blies. Gerzlich, der Kabarettist, ist 1967 in Gelsenkirchen geboren. Als er jung war, lebten die Menschen im Ruhrgebiet noch unter einer Rußglocke. Man stand mit dem Lärm der Zechen auf und ging mit ihm zu Bett. So erzählt er es.
Schon damals war allen klar: Das wird nicht ewig so weitergehen. Je billiger Kohle aus dem Ausland wurde, desto häufiger mussten die Arbeiter zu Hause bleiben. Ende Dezember wird auch Prosper-Haniel in Bottrop (Nordrhein-Westfalen) schließen, die letzte aktive Zeche des Ruhrgebiets. Dann ist es vorbei. Bleibt die Frage: Was bleibt von einer Industrie, die die Region mehr als anderthalb Jahrhunderte lang geprägt hat?
Wer Prosper-Haniel besuchen will, der fährt einmal quer durchs Ruhrgebiet, vorbei an stillgelegten Fördertürmen und Halden, auf denen Gras wächst. Sie sind der sichtbare Teil des Strukturwandels. Noch 1957 arbeiteten im Ruhrgebiet eine knappe halbe Million Kumpel. Sie holten im Jahr mehr als 120 Millionen Tonnen
Kohle aus der Erde. Die Kohle war der Motor des Wirtschaftswunders nach dem Krieg. Sie war wichtig für die Erzeugung von Eisen. Und mit Eisen stellte man Stahl her, den man für Maschinen, Züge, Autos brauchte. Ende der 50er-Jahre wurden im Ruhrgebiet 12,3 Prozent des deutschen Bruttosozialprodukts erzeugt.
Schon kurz darauf kam es zur ersten großen Kohlekrise. Durch die Subventionen in den Jahren nach dem Krieg war immer mehr Kohle gefördert worden. Weil aber immer mehr Deutsche mit Öl heizten, wurde einer der wichtigsten Märkte immer kleiner. 1968 wurde deshalb die Ruhrkohle AG (RAG) gegründet. Ihr Auftrag: die Kohleproduktion steuern und das Zechensterben verlangsamen.
Aber der Abwärtstrend war nicht umzukehren. Gab es 1960 noch 146 Zechen in Deutschland, sind es heute nur noch zwei, eine davon im Ruhrgebiet: „Prosper-Haniel“steht in großen Buchstaben auf dem grünen Förderturm, der schon von Weitem zu sehen ist. Aus der Gegensprechanlage an der Eingangsschranke grüßt jemand: „Glückauf!“Es ist der alte Gruß der Steiger: Komm heil wieder herauf!
Auf der anderen Seite der Schranke sitzen ein paar Kumpel in einem kargen Besprechungsraum, es gibt belegte Brötchen und Kaffee. Einer der Männer ist Jörg Laftsidis, mit 55 schon sehr lange in der Branche. Laftsidis kann von Arbeiterkämpfen, Kohlerunden, Subventionen in dem Ton erzählen, in dem andere über ihren Garten reden. Vieles hat er selbst miterlebt: Die Angst vor weiteren Schließungen, die neuen Hoffnungen, die nächste Krise, die jahrelangen Proteste. Am Ende waren alle Mühen umsonst.
Im Jahr 2007 verabschiedete die Regierung ein Gesetz, das sich „Steinkohlefinanzierungsgesetz“nannte, ausgerechnet. Tatsächlich beendete es die Steinkohlefinanzierung. Bis Ende 2018, elf Jahre, hatte die RAG Zeit, das Sterben zu organisieren. Sie sollte es „sozialverträglich“gestalten, so wollte es die Politik. Aber wie sollte das gehen?
Dem Ruhrgebiet die Kohle zu nehmen, war in etwa das Gleiche, wie einem Hochleistungssportler das Herz zu entnehmen. Hunderttausende Kumpel mussten umgeschult oder abgefunden werden. Die Frist half; viele konnten bleiben, bis es Zeit für den Ruhestand war. Andere arbeiten heute als Feuerwehrmänner oder Altenpfleger. Aber das Ende der Industrie hat ein Loch. Auch viele Zulieferer mussten schließen, heute sind die Arbeitslosenquoten in Teilen des Ruhrgebiets unter den höchsten in Deutschland.
Noch viel länger wird die RAG mit den sogenannten „Ewigkeitsaufgaben“beschäftigt sein: Regenwasser, das in die Gruben einsickert, muss abgepumpt werden. Es könnte nämlich das Grundwasser verunreinigen. Bergschäden müssen beseitigt, Flächen renaturiert werden. Experten schätzen die Kosten auf 220 Millionen Euro – im Jahr. Bis in die Ewigkeit.
Mit dem Ende der Kohle haben sich die Männer abfinden müssen. Was sie beschäftigt, ist etwas anderes: die Frage, was vom Bergbau bleibt, wenn die letzte Zeche zumacht. Es geht um ihr Lebenswerk, ihre Vergangenheit. Es gibt Bergbau-Museen, Traditionsvereine, sicher, aber kann man eine Kultur konservieren? Vielleicht nicht. Aber der Bergbau hat Spuren hinterlassen, die nicht sichtbar sind und trotzdem bleiben werden: die Art der Menschen hier, ihre Direktheit, ihre Hilfsbereitschaft, ihr Humor, das komplett Bescheidene.
Wie das zusammenhängt? Früher waren Zechen Dörfer. In den Siedlungen standen sehr viele baugleiche Häuschen, für jede Familie. Starke soziale Systeme waren das, sagt Laftsidis, „da wusste der Steiger genau: Der Kumpel Anton ist entweder in der Kneipe oder malochen.“Wenn einer krank war oder finanzielle Sorgen hatte, half man. Laftsidis ist Halbgrieche. Trotzdem: „Mein Vater hat nie Rassismus erlebt. Unter Tage zählt der Mann, wie er malocht, und ob ich mich auf den verlassen kann.“
Matthias Erdmann, mit 30 Jahren der Jüngste im Raum, ist in einer Zeit
Sicher, es gibt Museen und Traditionsvereine. Aber kann man eine Kultur konservieren?
geboren, in der eigentlich niemand mehr Bergmann werden wollte. Erdmann schon. Er saß als Kind auf der Halde und träumte davon, unter Tage zu fahren. Wenn Prosper-Haniel Ende Dezember schließt, wird er Tränen in den Augen haben, glaubt er. Kurz wird es still im Raum.
Da kommt plötzlich ein Arbeiter herein, direkt von der Schicht: feste schwarze Schuhe, weißer Helm mit Kopflampe, Baumwollanzug, darunter das blau-weiß-gestreifte Hemd der Bergleute. Wahrscheinlich zur Show für die Touristen, die hier häufig vorbeikommen? Jeder will noch einmal hinunter, bevor das Bergwerk schließt. Die Arbeiter lachen, als sie das hören. Nein, nein, so sehen die Kumpel tatsächlich immer noch aus. Die Lampen sind sicherer geworden, die Bohrer effizienter, jeder Mann kann heute mit einem Chip geortet werden. Trotzdem hat der Bergbau noch immer etwas Archaisches. Laftsidis, zum Beispiel, fing am 1. September 1984 auf der Zeche Consolidation an. Ein paar Monate vorher hatte es dort ein Grubenunglück gegeben, fünf Tote. Vier Jahre später ein Weiteres im hessischen Borken, 51 Tote. Kurz danach starb sein eigener Patenonkel auf einer Zeche. Er kann das alles auswendig aufzählen. Unfälle sind heute eine Seltenheit geworden, trotzdem gehört das Wissen um die Gefahr noch immer zur Genetik des Bergbaus.
Das erste Mal da unten vergisst man nie, sagt Laftsidis, und die Männer um ihn herum nicken. Er selbst war 17. Ein Ausbilder nahm ihn mit, der junge Mann war ein wenig schüchtern. Unten im Schacht stellte man ihn dem Fahrsteiger vor, „für uns damals wie ein Gott“. Dieser Gott also schaute Laftsidis, den Halbgriechen, ganz genau an und fragte dann den Ausbilder: „Hör mal, Horst, ist das einer von uns?“Kurze Pause. Dann wird klar, er meint: ein Schalke-Fußballfan. Denn Schalke 04
und die Zeche Consolidation, das war untrennbar. Stadion und Zeche lagen direkt nebeneinander, viele Spieler arbeiteten anfangs auf der Zeche. Horst ließ sich Zeit, dann sagte er: „Ja, ja, sicher, das ist einer von uns.“Als Laftsidis sich ein paar Wochen später zur Arbeit meldete, hörte er den Mann schon aus der Ferne rufen: „Maschinen haaaalt! Mein Junge ist da.“Von da an gehörte er dazu.
Man muss selbst unten gewesen sein, um den Mythos zu verstehen. Letzter Stopp auf dem Weg zum Schacht: In der „Weißkaue“ziehen die Kumpel ihre saubere Kleidung aus. Sie wird an einer Konstruktion in einem Korb unter die Decke gezogen – um Platz zu sparen und die Sachen sauber zu halten. Nackt geht es von dort weiter zur „Schwarzkaue“, wo die Arbeitsbekleidung bereitliegt. Weil die erste Schicht schon weg ist, darf man auch als Frau kurz hineinschauen. Ein Arbeiter steht verlassen in dem großen Raum. Als er die Besucher sieht, sagt er im Spaß: „Weg da, ich mache mich jetzt nackig.“Die Kumpel gehen weiter, außer Hörweite sagt einer entschuldigend: „Frauen kommen hier nicht so oft runter, da drehen die Männer immer ein bisschen auf.“Bis heute ist der Bergbau unter Tage eine reine Männerwelt.
Dann endlich steht man selbst vor dem Schacht und sieht, wie 80 Männer aus dem engen Aufzug in den Vorraum drängen. Rußschwarz die Gesichter, „Glückauf “, „Glückauf “. Der Aufzug hat zwei Etagen für je 40 Mann. Die Schiebetüren quietschen beim Schließen, nach wenigen Sekunden ist es komplett dunkel. In anderthalb Minuten geht es
1000 Meter in die Tiefe. Man hört den Nebenmann im Dunkeln atmen, denkt in der Stille vielleicht denselben Gedanken: Wenn jetzt was passiert … Einer schaltet seine Grubenlampe ein, Silhouetten sind zu sehen im Licht. Es ist wie Liedersingen am Lagerfeuer, die Gruppe als Schutz gegen die Dunkelheit um einen herum.
Wieder oben kann man sich kaum vorstellen, dass diese ganze Welt unter Tage bald ein Ende haben soll. Laftsidis fährt zurück nach Gelsenkirchen und bietet an, die Reporterin mitzunehmen. Auf dem Weg zeigt er auf all die Orte, die sein Leben hier geprägt haben: das alte Schalke-Stadion, daneben das Vereinslokal. Schließlich sein früherer Arbeitsplatz: die Zeche Consolidation. Schon jetzt können es viele kaum glauben, wenn er erzählt, dass er auf der Zeche arbeitet. „Die meinen, das gibt es gar nicht mehr“, sagt Laftsidis. Gleichzeitig wird die Erinnerung von allen Seiten vereinnahmt.
Beim Bäcker heißt das Brot jetzt „Steigerkruste“, bei den „Steiger-Awards“werden einmal im Jahr Menschen geehrt, die sich um irgendetwas verdient gemacht haben.Und jedes zweite Geschäft trägt ein „Glückauf“im Namen.
Im „stadt.bau.raum“ist das nicht so, obwohl der Bezug zum Bergbau hier passen würde. In dem stillgelegten Schacht Oberschuir in Gelsenkirchen finden heute Veranstaltungen statt. Wie so viele alte Zechen hat auch diese im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Emscher Park in den 90er-Jahren eine neue Bestimmung gefunden. Kabarettist Hans Gerzlich sitzt auf einem Tisch im ehemaligen Maschinenraum. Neben ihm ragt eine alte Fördermaschine aus dem Boden. Gerzlich kommt gerne her, seine Bekannte Elke Schumacher ist verantwortlich für das Programm. Ihr Vater war noch Bergmann, erzählt Schumacher, „die Kinder sollten es einmal besser haben“. Es ist eine Familiengeschichte wie viele hier: Die Kinder der Bergleute sind Kulturschaffende geworden, Unternehmer, Akademiker. Dass das so ist, ist einer der vielen kleinen Erfolge des Strukturwandels, die es bei allen Problemen ja auch gibt.
Am Schacht Oberschuir ist zu sehen, wie die Region versucht, aus den Resten der Vergangenheit Neues zu schaffen. Seit den 90er-Jahren wurden Milliarden investiert, um die Folgen des Kohleausstiegs zu bewältigen. Unter dem Namen „Metropole Ruhr“versucht man, sich ein neues Image zu geben: urban, innovativ, vernetzt. Zerstörte Grünflächen wurden renaturiert, aus alten Werksgeländen wurden Theater und Gründerzentren.
Die Bilanz ist durchwachsen: Im Ruhrgebiet gibt es heute so viele Hochschulen wie in kaum einer anderen deutschen Region. Die Infrastruktur ist gut, man will vor allem Start-ups anziehen. Aber wenn etwas funktioniert, wird daraus selten eine Schlagzeile. Das Image des Ruhrgebiets, besonders des ärmeren Nordens, prägen fast komplett negative Bilder: zerbrochene Fenster, vermüllte Ladenzeilen, Betrunkene in der Bahnhofsstraße.
Viele im Ruhrgebiet ärgern sich darüber. Nicht, weil es die Probleme nicht gibt. Sondern weil sie nicht alles sind, was es zu erzählen gibt. Der Zusammenhalt, die Kreativität, die Hilfsbereitschaft, die vielen Kulturangebote. Wer bleibt, lebt gerne hier. Vor ein paar Jahren hat mal jemand eine gute Formulierung dafür gefunden: „Woanders is auch scheiße.“Man kann jetzt T-Shirts damit kaufen. So funktioniert Lokalpatriotismus hier: selbstironisch, derb und irgendwie angenehm bescheiden.
Wenn Ende Dezember auch Prosper-Haniel schließt, wird es wieder einmal Zeit für eine Bilanz sein. Was wurde in den elf Jahren seit dem Ausstiegsbeschluss geschafft? Laftsidis schaut lieber nach vorne: „Die Frage ist doch: Was bleibt? Was ist in 20, 30, 50 Jahren?“Er, der Fragen sonst gerne selbst beantwortet, schweigt diesmal. Weil niemand die Antwort kennt. Langsam fährt er sein Auto in eine Parklücke am Hauptbahnhof. Er stellt den Motor ab, öffnet die Tür und verabschiedet sich. Plötzlich dreht er sich noch einmal um. „Meinen Kindern sag ich immer: Man muss seine Vergangenheit kennen, um die Zukunft zu gestalten.“Vielleicht ist das schon alles.
In anderthalb Minuten geht es 1000 Meter in
die Tiefe.