MERKEL UND MEHR
Wie ändert sich Deutschland politisch?
Wenn die Christdemokraten Anfang Dezember einen neuen Parteichef wählen, beginnt Angela Merkels Ende als Politikerin. Die Entscheidung ist aber nur ein Teil von der radikalsten Änderung in
der deutschen Politik, die es in den letzten Jahren gegeben hat. Von Barbara Kerbel
Als ich 1984 in eine kleine bayerische Grundschule kam, war Helmut Kohl seit fast zwei Jahren Bundeskanzler. 1997 bekam ich mein Abiturzeugnis. Mit uns in der Aula saßen auch Schüler aus dem benachbarten Thüringen – aus der früheren Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Was sich am Beginn meiner Schulzeit noch niemand vorstellen konnte, war Realität: Deutschland war wieder ein Land, der Kalte Krieg war vorbei.
Eines aber war in den 13 Jahren gleich geblieben: Der Bundeskanzler hieß immer Helmut Kohl. Erst 1998, nach 16 Jahren im Amt, wurde er abgewählt.
Was Kohl für die Kinder der 80erJahre war, ist Angela Merkel für die jungen Menschen von heute. Ein Deutschland ohne sie? Schwer vorstellbar. Die vielleicht schönste Metapher dafür hat die Welt am Sonntag gefunden: Angela Merkel, schrieb die Zeitung, ist für junge Menschen in Deutschland wie das Wetter: einfach immer da. Seit 2000 steht sie an der Spitze der Christlich Demokratischen
Union (CDU), seit 2005 ist sie Kanzlerin. Am Ende der Legislaturperiode im Jahr 2021 wird sie genauso lange Regierungschefin sein wie Kohl.
Das muss man wissen, um die Zäsur zu verstehen, die Merkel am 29. Oktober ausgelöst hat. „Auf dem nächsten Bundesparteitag der CDU im Dezember in Hamburg werde ich nicht wieder für das Amt der Vorsitzenden der CDU Deutschlands kandidieren“, sagte die 64Jährige da. Außerdem soll diese Amtszeit als Kanzlerin ihre letzte sein. Sie will auch kein Amt in Europa oder irgendeiner globalen Organisation haben. Was sie dann machen will, fragten Reporter. „Da habe ich jetzt keine Angst, dass mir nichts einfällt“, sagte die Kanzlerin. Eine typische MerkelAntwort: knapp, pointiert, ein bisschen ironisch.
Merkels Abschied von der Politik hat begonnen: erst von der Partei, dann vom Land. Es ist aber auch ein Abschied von der ganzen Welt. Während Merkels Amtszeit gab es keine Weltrevolution wie das Ende des Kalten Kriegs 1989/90. Es gab auch kein einzelnes westliches Trauma wie die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA.
Aber die 13 Jahre sind geprägt von Krisen, Kriegen und Konflikten: die Wirtschafts und Finanzkrise; die Griechenlandkrise; die Kriege in der Ukraine und in Syrien, der Terror im Irak und in Afghanistan; die Flüchtlingskrise 2015; der Brexit; die Gefahr durch den Klimawandel; die manipulierten Dieselmotoren. Europa droht auseinanderzubrechen. Populisten werden überall stärker, Gesellschaften sind polarisiert. Und immer wieder gibt es Terroranschläge, auch in Deutschland.
Eines aber blieb in den letzten Jahren immer gleich: Zwischen den Staatsmännern in ihren dunklen Anzügen stand Angela Merkel in einem ihrer bunten Hosenanzüge. Sie argumentierte, appellierte, erklärte, kritisierte, machte Angebote, machte Druck. Und stand am Morgen nach einer schlaflosen Verhandlungsnacht in Brüssel, Minsk oder Washington mit ihrem sachlichen Gesichtsausdruck vor den Kameras, um ihre Interpretation der Dinge mitzuteilen.
Deutschland, Europa, die Welt ohne die Frau mit den zur Raute geformten Händen? Schwer vorstellbar. Deshalb wird jetzt alles gleichzeitig diskutiert: Merkels Lebenswerk und die Bilanz ihrer Amtszeit genauso wie die Situation Deutschlands und der Welt. Und die NachfolgeFrage.
Viele Beobachter – und vor allem ihre Kritiker – haben nicht das Gefühl, dass ihr der Abschied in Etappen gelingen wird. Merkel selbst hatte jahrelang ein Motto: Das Kanzleramt und der Parteivorsitz gehören zusammen. Jetzt findet sie es plötzlich doch gut, die Macht zu teilen. Sie nannte das „ein Wagnis“.
Spekulationen über ihre Nachfolger kommentierte die 64Jährige nicht. Aber sehr schnell haben sich drei Politiker um den Vorsitz beworben: Annegret KrampKarrenbauer (56), bis jetzt die Generalsekretärin der Partei; sie gilt als
enge Vertraute der Kanzlerin. Gesundheitsminister Jens Spahn (38), einer von Merkels schärfsten Kritikern. Und der Jurist Friedrich Merz (63), der sein politisches Comeback plant; 2009 hatte er im Konflikt mit Merkel die Politik verlassen.
Beobachter erwarten einen Kampf um die Macht in der CDU – und ihre Richtung. Einen „schönen Prozess“nannte Merkel das. „Das haben wir jetzt 18 Jahre lang nicht gehabt.“Das war dann vielleicht noch ein bisschen mehr Ironie als bei ihrer Antwort auf die Frage nach ihrer Zukunft. Sie wurde nämlich in diesen 18 Jahren immer wieder mit großer Mehrheit gewählt und konnte ihre Positionen fast immer zu denen der Partei machen.
Aber in den letzten Jahren hat sich die deutsche Politik extrem verändert. Während der ersten Hälfte von Helmut Kohls Zeit als Bundeskanzler saßen nur fünf Parteien im Bundestag: die beiden Unionsparteien (CDU und CSU), die Sozialdemokraten (SPD), die Freien Demokraten (FDP) und die Grünen. Bis in die späten 90erJahre gab es Bundesländer, die traditionell konservativ oder sozialdemokratisch regiert wurden. Union und Sozialdemokraten waren klassische Volksparteien, die in den Ländern nicht selten absolute Mehrheiten erreichten.
Das alles ist anders geworden. Im aktuellen Bundestag sitzen sechs Parteien, so viele wie noch nie. Die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) ist größte Oppositionspartei. Seit der Landtagswahl in Hessen Ende Oktober sitzt sie außerdem in allen Länderparlamenten.
Bei der Wahl hatten nur noch 27 Prozent der Wähler CDU gewählt – ein Minus von 11,3 Prozentpunkten. Auch die SPD verlor fast elf Prozentpunkte und kam nur noch auf 19,8 Prozent. Für CDU und SPD war die Wahl ein Schock. Am Montag danach kündigte Angela Merkel ihren Abschied an.
Es sieht so aus, als ob die Zeit der großen Volksparteien vorbei ist. Warum? Parteienforscher sagen: Vor allem junge Leute binden sich nicht mehr auf Dauer an eine Partei. Viele in der SPD sagen: Uns bleibt in der großen Koalition kein Raum, weil uns Merkel die Inhalte wegnimmt. Viele in der CDU sagen: Merkel hat die Union zu weit nach links gerückt. Und Beobachter meinen, dass die große Koalition eigentlich solide arbeitet – wenn es nicht immer wieder Ärger geben würde. Aber die Unterschiede zwischen den Parteien sind für viele Wähler heute schwerer zu erkennen als früher.
Das hat neue Räume freigemacht. Einerseits am rechten Rand, den die AfD besetzt hat. Seit die Partei im Bundestag mit nationalen Parolen provoziert, ist die Stimmung aggressiver geworden. Auch die Debatten sind lebendiger, das Interesse der Öffentlichkeit ist größer.
Den größten politischen Raum aber gewinnen zurzeit die Grünen. Sie kämpfen für mehr Klimaschutz, für mehr Europa, für eine liberale Flüchtlings und Einwanderungspolitik, gegen Populismus. Das gefällt vielen jungen Wählern, vor allem in den Städten. In Hessen gewannen sie fast neun Prozentpunkte – und wurden genauso stark wie die SPD. Zwei Wochen vor der Hessenwahl triumphierten sie schon im traditionell sehr konservativen Bayern: 17,6 Prozent gaben ihnen ihre Stimme, auch dort ein Plus von neun Punkten. Anders die CSU: Sie bekam das schlechteste Ergebnis in Bayern seit 1945 – 37,2 Prozent, ein Minus von mehr als zehn Punkten.
In Hessen werden die Grünen wie schon in der letzten Wahlperiode als Juniorpartner in einer Koalition mit der CDU regieren. In BadenWürttemberg ist seit 2011 der Grüne Winfried Kretschmann Ministerpräsident, auch er in einer Koalition mit der CDU – aber als der größere Partner. In SchleswigHolstein regieren die Grünen in einer sogenannten JamaikaKoalition mit CDU und FDP. Manche halten die aus der Umweltbewegung der 80erJahre entstandene Partei schon für die neue Volkspartei der Zukunft.
Zu Zeiten Kohls waren die Grünen für viele nur eine Gruppe schlecht gekleideter ökologischer Verrückter.
Die deutsche
Politik ist inzwischen sehr anders als vor wenigen Jahren.