DAS ENDE EINER ÄRA
Der letzte Otto-Katalog
Am 4. Dezember verschickt die Firma Otto nach 68 Jahren das letzte Mal ihren bekannten Katalog. Zeit für ein bisschen Nostalgie. Denn der Otto-Katalog hat die große
Welt an den kleinen Küchentisch gebracht.
Das deutsche Wirtschaftswunder kommt 1950 mit 28 Paar Schuhen ins Haus. In diesem Jahr bekommen die Menschen etwas von ihrem Postboten, das es im Land so noch nicht gegeben hat: den Katalog eines Versandhändlers aus Hamburg-Schnelsen.
In dem dünnen 14-Seiten-Heft gibt es nicht nur Bilder der neuesten Schuhmode. Unter jedem Modell stehen außerdem Informationen zu Farbe und Größe. Und natürlich ist neben jedem Foto eine Nummer: Der „orthopädische Frauenschuh schwarz oder braun“hat die 568. Die „Pumps schwarz“haben die 565. Diese Artikelnummern sind wichtig. Die brauchen potenzielle Kunden nämlich, um etwas von der Herbst-Winter-Kollektion 1950/51 zu bestellen. Nicht nur in der Stadt. Auch in den kleinen Dörfern, die keine eigenen Modeläden haben.
Nicht nur das ist neu. Bei Otto bekommt der Kunde zusammen mit den Schuhen eine Rechnung. Erst dann muss er bezahlen. Wenn die Schuhe nicht passen, kann er sie an den Versandhändler zurückschicken – ohne Probleme zu bekommen. Nach dem Motto: „Vertrauen gegen Vertrauen.“
Die Idee funktioniert so gut, dass Otto bald mehr im Angebot hat: Ab 1956 gibt es auch Fahrräder und Elektrogeräte. 1958 macht der Versandhändler schon einen Umsatz von 100 Millionen D-Mark (heute circa 250 Millionen Euro).
Auch der Katalog wird immer dicker. Und er bekommt Farbe. An deutschen Küchentischen bestellt man im Herbst 1961 „schönen Modeschmuck“(Seite 32), das „modische Duett Schirm und Handtasche“(Seite 259) oder auch „Camping-Artikel“(Seite 385). Das Sortiment wird immer größer.
Es geht dabei nie einfach nur um das Bestellen. Der Otto-Katalog verspricht Möglichkeiten. Auch wenn ich nur Geld für das elegante rote Kleid habe – wie schön wären Stilettos und ein toller Hut dazu? Und das moderne Radio, wäre das nicht fantastisch für die nächste Party? Auch im kleinsten Dorf bekommen die Kinder bei den vielen Seiten mit dem Spielzeug große Augen – und freuen sich schon Monate vorher auf ihren nächsten Geburtstag.
Wer den Katalog in der Hand hält, beginnt zu träumen. In den 70er-Jahren hat er mehr als 1000 Seiten. Auch kleine Otto-Büros für Sammelbestellungen gibt es an vielen Orten. Mitte der 80er-Jahre ist es offiziell: Otto ist der größte Versandhändler der Welt. Die Vorstellung des Katalogs ist ein Medienevent. 1986 bringen die Hamburger den „Dallas“-Star Linda Gray auf das Cover. Später folgen Personen wie Joan Collins („Denver Clan“) und Models wie Claudia Schiffer, Heidi Klum und Toni Garn. Es gibt außerdem Spezialkataloge, zum Beispiel für Möbel.
Die Nummern neben den Artikeln sind schon lange zu Zahlenkolonnen geworden. Kunden müssen das Formular für ihre Bestellung sehr genau ausfüllen. Sonst kommt der neue Mantel vielleicht in der falschen Größe oder Farbe.
1994 klebt auf dem Katalog eine interaktive CD-ROM. Kunden konnten sich die Produktfotos auf ihre noch langsamen Computer laden. Otto ist der erste Versandhändler des Landes, der mit diesen modernen Medien arbeitet. Auch im Internet ist die Firma Pionier: Schon 1995 startet otto.de. Und die ersten Handys, die mit der Technik WAP arbeiten, bekommen im Jahr 2000 mobile Daten von Otto.
Die analoge Katalog-Legende hat es in diesen modernen Zeiten immer schwerer. Viele Jahrzehnte hat es sie zwei Mal im Jahr gegeben – mit einer Auflage von rund zehn Millionen Exemplaren. In manchen Jahren hat es auch drei Exemplare des Hauptkatalogs gegeben.
Heute bestellen mehr als 90 Prozent der Kunden online. Sie können zwischen fast drei Millionen verschiedenen Artikeln wählen. Auch immer mehr andere Firmen bieten auf der Internetplattform der Hamburger ihre Produkte an. Aktuell ist Otto nach Amazon damit der zweitgrößte E-Commerce-Händler des Landes.
Die Zahl der Seiten im Katalog ist stark reduziert: Es sind nicht mehr 1000, sondern circa 700. Die Auflage ist jetzt bei einer niedrigen einstelligen Millionenzahl. Der Umsatz über den bekannten Katalog ist extrem niedrig. So niedrig, dass die Chefs von Otto nach 68 Jahren erklärt haben: Jetzt ist Schluss. „Wir sagen jetzt ‚tschüss’ – als letztes Zeichen einer gelungenen Transformation vom einstigen großen Katalogversender zum reinen Onlinehändler, die weltweit nur Otto so geschafft hat“, so Marc Opelt von Otto.
Am 4. Dezember verschickt der Versandhändler seinen letzten Hauptkatalog. Das Frühjahr-/Sommer-Sortiment 2019 markiert das Ende einer Ära. Ein bisschen Nostalgie gibt es deshalb nicht nur in der Hamburger Firmenzentrale: Viele Deutsche erinnern sich gern an das 1000 Seiten dicke Schaufenster in die große Welt. An die Produkte, die sie zum Träumen gebracht haben. An das Warten auf das Paket, wenn das Teenager-Budget nach Monaten des Sparens hoch genug für das neue Bonanza-Rad war.
Es ist wie das Ende einer Ära. Und der Abschied von einem alten Freund, mit dem viele Deutsche eine ziemlich gute Zeit hatten. Claudia May
In den 80erJahren ist ein neuer Otto-Katalog eine wichtige Nachricht in den Medien.