„Wälder sind wichtiger als die eigene Gesundheit“
Unsere Lieblingsrussin weiß: Die Deutschen helfen unheimlich gern. Und zwar nicht nur Menschen, sondern auch Bäumen und Vögeln. Das kann ziemlich seltsam werden.
Im Urlaub habe ich ein älteres Ehepaar kennengelernt. Als die beiden hörten, dass ich aus Russland komme, fingen ihre Augen an zu leuchten. Weil sie seit Jahren Kinder aus Weißrussland bei sich zu Hause aufnehmen. Die Kinder kommen aus dem Gebiet, das nach der Atomkatastrophe in Tschernobyl stark verstrahlt wurde. Die Menschen in ihrem Dorf, erzählten die beiden Rentner, gründeten damals einen Verein, um die Kinder zur Erholung nach Deutschland zu bringen. Wunderbare Kinder, schwärmte das Paar. So lieb und dankbar!
Noch nie habe ich von einer russischen Familie gehört, die etwas für die Opfer der Tschernobyl-Katastrophe tut. Aber hessische Rentner engagieren sich – seit 1991. Deutsche lieben es, Gutes zu tun. Sie geben Syrern Deutschunterricht, überweisen Studiengebühren an lateinamerikanische Studenten, schicken Schultaschen nach Afrika. Sie haben ein Herz für Straßenhunde, kranke Katzen und Straßenmusiker. Als mein Bruder, der Opernsänger ist, sich einmal in eine deutsche Fußgängerzone stellte, war seine Plastiktüte nach ein paar Arien voll. Die Deutschen sind ein tolles Volk, dachte er. So lieb und dankbar!
Am liebsten schließen sich deutsche Helfer in einem Verein zusammen. Kaum passiert irgendwo auf der Welt etwas Schlimmes, zack, haben die Deutschen schon einen Verein gegründet und sammeln Hilfsgüter. Außerhalb der großen deutschen Städte werden Brände von der freiwilligen Feuerwehr gelöscht. Die ist auch ein Verein. Dessen Mitglieder üben in ihrer Freizeit den Ernstfall und lassen ihre reguläre Arbeit liegen, wenn es irgendwo brennt.
Es gibt natürlich auch viele helfende Einzelpersonen. Ich kenne einen sehr netten Mann aus Siegburg, der eine ganze afghanische Familie adoptiert hat. Für die Kinder hat er Fahrräder besorgt, für die Frau eine Nähmaschine. Er besucht die Familie regelmäßig. Obwohl sie sich kaum unterhalten können, macht ihm das großen Spaß. Einmal sah ich ihn glücklich auf dem Teppich der Familie sitzen. Ich fragte mich, wer hier wen adoptiert hat.
Wenn es aber um die Natur geht, dann gibt es kein Halten mehr! Wälder lieben die Deutschen noch viel mehr als Kinder in Afrika. Sie sind wichtiger als die eigene Gesundheit und die Familie. Zu diesem Ergebnis kam vor Kurzem auch eine Studie, der sogenannte Werte-Index. Völlig klar, dass in Deutschland Aktivisten tagelang Baumhäuser in Besitz nehmen und von oben Polizisten anpinkeln, um einen Wald vor der Abholzung zu retten. Manche riskierten ihr Leben und verschanzten sich unter der Erde. Rettungskräfte mussten Sauerstoff zu ihnen pumpen.
Und im Sommer las ich in der Zeitung: Mehr als 130 000 Deutsche haben eine Petition unterschrieben, um drei Nachtigallen vor einer Forscherin zu retten. Unglaublich! Die arme Neurobiologin wollte mithilfe der Vögel wichtige Erkenntnisse für die Menschheit gewinnen. Ihr Experiment hatte sie minutiös geplant, aber eins vergessen – dass sie in Deutschland ist. Und in Deutschland ist die Natur wichtiger als die Menschheit.