Vom Himmel hoch
Wenn Schiffe vor der Küste Hilfe beim Navigieren brauchen, bleibt bei schlechtem Wetter nur der Helikopter zum Transport der Helfer zum Schiff. Denn der internationale Warentransport auf dem Meer erlaubt keine Pausen. Auch nicht an Weihnachten.
Von Marc Bielefeld
Josef Blöchl sitzt im ersten Stock eines Gebäudes südlich von Wilhelmshaven (Niedersachsen) in einem Büroraum, blickt auf seinen Computer und nimmt noch etwas von seinem Salamibrötchen. Es ist kurz nach 0 Uhr des zweiten Weihnachtstags, draußen hört man den Wind pfeifen. Auf dem Jade-Weser-Airport ist sonst kein Mensch zu sehen. Blöchl ist allein auf dem kleinen Flughafen, bis zum nächsten Morgen arbeitet er dieses Mal. Kein Festtagsbraten, keine Adventslichter. Auch kein „Last Christmas“aus dem Radio. Neonlicht scheint von der Decke. Im Nebenzimmer wartet ein einfaches Bett, wo er sich kurz ausruhen kann.
Blöchls Bildschirm zeigt eine schematische Karte der Nordsee. Schiffe mit ihren Namen, Positionen und Richtungen. Die Deutsche Bucht mit ihren Küsten, Schifffahrtswegen und Verkehrstrennungsgebieten. Kurz schaut er auf eine Liste der Einsätze der letzten Nacht. 19 Mal sind seine Kollegen gestern mit den Helikoptern aufs Meer hinausgeflogen, um Seelotsen zu Schiffen in Not zu bringen. Oder um sie von Frachtern abzuholen, die in vier Meter hohen Wellen torkelten. In Bedingungen, die das Versetzen der Lotsen unmöglich machen.
„Schöner Heiligabend“, sagt Blöchl. „War einiges los gestern. Jetzt haben wir ein Wetterfenster, aber morgen geht es wieder rund.“
Blöchl blickt auf den Bildschirm, prüft die aktuellen Wetterdaten. Das letzte Sturmtief liegt über Nordschweden, schwächt sich ab. Aber südlich Islands steht schon das nächste Orkantief. Der Seewetterbericht vermeldet für die Deutsche Bucht westliche Winde, zunehmend acht bis neun, See bis sieben Meter. Für die Seegebiete Utsira und Viking sind bis zu elf Meter hohe Wellen vorhergesagt.
Blöchl weiß, was da draußen los ist. Jahrelang war er Hubschrauberpilot bei der Bundeswehr, flog danach für Wiking Helikopter Service fast 30 Jahre über der Nordsee. Heute arbeitet er als Dispatcher in der Flugleitung der Firma.
Seit mehr als 40 Jahren fliegt Wiking Einsätze über dem Meer, heute mit acht Helikoptern, 29 Piloten und fast 100 Angestellten. 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag. Die Piloten fliegen Techniker und Ingenieure zu den Offshore-Parks in der Nordsee und stehen für Rettungsflüge parat. Meistens aber fliegen sie, um Seelotsen zu versetzen.
Größere Tanker und Massengutschiffe, gigantische Frachter und Schiffe mit Gefahrgut müssen schon weit vor der Küste einen Lotsen an Bord holen. Zu Schiffen, die näher an der Küste fahren, reisen die Lotsen zwar meistens mit
Booten. Aber oft ist auch das nicht mehr möglich. Vor allem bei starkem Wind steigt die Zahl der Flüge. Denn spätestens ab zweieinhalb-Meter-Wellen sagen die Lotsen: „Jetzt ist Schluss, wir brauchen den Heli.“Ab sechs, sieben Windstärken wird das Klettern über die Lotsenleiter zu riskant. Das Versetzen mit Helikoptern ist dann schneller, sicherer und günstiger.
Der Hauptgrund für die Flüge über See aber ist ein anderer: In der Schifffahrt gibt es keine Pausen. Tag und Nacht fahren Frachter und Tanker zu den Häfen der deutschen Nordseeküste, verlassen die Terminals in Bremerhaven, Wilhelmshaven, fahren über die großen Flüsse wie die Weser oder die Elbe. So versorgen die Schiffe das Land, denn in ihren Bäuchen lagert das Gold von heute: die vielen Waren. In Hamburg werden zum Beispiel jedes Jahr circa 140 Millionen Tonnen an Seegütern geladen und gelöscht. An den deutschen Küsten insgesamt sind es mehr als 300 Millionen Tonnen.
Pausen? Die Wirtschaft mag keine Pausen. Immer muss es weitergehen, müssen die Kapillaren des Konsums bedient werden. Zu Ostern, zu Weihnachten, an Neujahr. Und im Orkan.
Josef Blöchl bekommt gleich den nächsten Auftrag. Der Öltanker Troviken
Die Wirtschaft mag keine
Pausen. Immer muss es weitergehen.
hat für 3.15 Uhr in der Nacht einen Seelotsen bestellt. Das 249 Meter lange Schiff liegt 25 Seemeilen vor der Küste und will nach Wilhelmshaven. Ohne einen Lotsen an Bord, der die Region gut kennt, darf der Tanker nicht weiter in Richtung Küste fahren. Blöchls Monitor zeigt vier Buchstaben: SPLT. Sea Pilot Transfer.
Um ein Uhr morgens an diesem zweiten Weihnachtstag greift er zum Telefon und weckt die Mannschaft für den nächsten Flug. Kapitän Bernd Wüstenbecker, Co-Pilot Friedhelm Johannßen und Fluggerätemechaniker Christoph Meyer werden zu Hause gleich aus ihren Betten steigen und mit dem Auto zur Basis fahren.
Als erster kommt Mechaniker Christoph Meyer an, geht in den Mannschaftsraum und zieht seinen schweren, orangefarbenen Überlebensanzug an. Dann öffnet er die Tür zum Hangar. Die Helikopter stehen dort wie große Insekten in einer Reihe. Noch im Orkan können sie starten. „Wenn 300 Meter lange Frachter im Sturm bocken, liegt der Heli noch immer ruhig in der Luft“, sagt Meyer und liest Checklisten und Betriebspläne.
Um 2.30 Uhr zieht er den Sikorsky S-76 aus dem Hangar, tankt 500 Liter Kerosin, von denen der Helikopter in einer Stunde 350 Liter brauchen wird. Inzwischen sind die Piloten gekommen und sprechen mit Blöchl. Wüstenbecker und Johannßen schauen sich die Wetterlage an. Wolkenuntergrenze bei 2000 Fuß, Wind aus 240 Grad, leichte Böen. Noch ist es ziemlich ruhig. Sie notieren die Position des Schiffs, prüfen im Computer, welche Information sie über den Tanker haben. Auf der Troviken wird es keine Landeplattform geben, dafür eine markierte Absetzstelle und genug Licht an Deck. Bei Nacht und Sturm zu den Frachtern und Tankern zu fliegen und Menschen an einer genauen Stelle an Deck abzusetzen, ist Millimeterarbeit. Die Piloten Wüstenbecker und Johannßen nehmen ihre Helme und Dokumente und gehen zum Helikopter.
Auch der Lotse ist inzwischen gekommen. Nico Finkensieper trägt Jeans, Windjacke und einen kleinen Koffer. Die vier steigen ein. Um 2.45 Uhr startet der Sikorksy nach Norden hinaus aufs Meer.
Die Piloten haben Wind, Wetter und Strecke genau kalkuliert, sie wollen pünktlich sein. Denn wenn die Reedereien für 3.15 Uhr einen Lotsen bestellen, dann meinen sie auch 3.15 Uhr. Verspätungen sind nicht erlaubt. Nicht einmal mitten in der Nacht, nicht einmal im bösen Sturm. Die Konsequenz wäre nämlich ein teures Chaos in der kompletten Logistik des Warenverkehrs.
Mit 250 Kilometern pro Stunde fliegt der Helikopter übers Meer, bis der Tanker in der Schwärze der Nacht zu sehen ist. Ein in der See rollendes Monstrum, dessen Konturen immer deutlicher werden. Dann öffnet Mechaniker Meyer die Tür. Gleich wird er den Lotsen abseilen.
Zum Greifen nah fliegt der Heli jetzt über dem Schiff. Mehr als 22 Knoten schnell fährt die Troviken, und die Piloten fliegen jetzt genauso schnell. Meyer lehnt sich aus der Tür, sucht das Schiff ab, findet eine Absetzposition. Dann geht alles ganz schnell. Lotse Finkensieper legt sich die
Schlinge um, kommt zur Tür. Ein kurzes Nicken, dann verschwindet der Lotse im Wind. Weniger als zehn Sekunden später ist er unten an Deck und geht durch eine Tür zur Kommandobrücke. Ab jetzt beginnt sein Auftrag: den Tanker sicher in den Hafen bringen.
Wie die Piloten sind die Lotsen immer in Bereitschaft. Ohne sie wären die Schiffe in den Meeren verloren. Im Haus der Lotsenbrüderschaft Weser II Jade sitzt Kapitän Marc Petrikowski in seinem Büro und blickt auf das kalte graue Wasser der Nordsee. Petrikowski ist einer von rund 870 Lotsen in Deutschland, die für das sichere Ein- und Auslaufen der vielen Schiffe verantwortlich sind. Und es gibt viel zu tun.
„Wir arbeiten nach dem Prinzip Taxi-Stand“, sagt Petrikowski. „Muss ein Lotse raus zu einem Schiff, rückt der nächste in der Liste auf und hält sich bereit.“Nicht selten ist es so, dass die Lotsen jede halbe Stunde losmüssen. Manchmal haben sie in Bremerhaven fast 50 Einsätze in 24 Stunden.
Draußen auf See ist der Verkehr gut zu sehen. Am Horizont fahren Frachter, Containerschiffe und Tanker übers Meer, wie Lastwagen auf einer Autobahn. Die größten davon sind Schiffe der Kategorie Triple E, 399 Meter lang, 80 000 PS stark. So ein Schiff kann mehr als 18 000 Container transportieren. Im Jahr fahren mehrere Hunderttausend Schiffe durch die Nordsee, rund 120 000 davon zu den vier wichtigsten deutschen Häfen. Das Meer ist zum Highway der Waren geworden.
Die Wirtschaft liebt das. Der Zentralverband der deutschen Seehafenbetriebe berichtet, dass die deutschen Seehäfen 2018 fast 300 Millionen Tonnen umgeschlagen haben. Auf der ganzen Welt sind es inzwischen mehr als elf Milliarden Tonnen im Jahr. Die Statistik der letzten 20 Jahre zeigt insgesamt stolz nach oben.
Unser globales Wirtschaftssystem will es so. Mit allen Kräften. Mit allen Mitteln, Strategien und Konsequenzen.
Wie genau geplant und getaktet der Warenverkehr ist, ist an den